Etwas, das dem Glück ähnelt
Vollkommen losgelöst von herkömmlichen Zirkusklischees war die originelle Trapeznummer "Thin Skin", die drei tschechische Artist: innen am 3. Unidram-Abend in der fabrik als Paradebeispiel für Neuen Circus präsentierten.
Alžběta Tichá, Lukas Bliss und Eliška Brtnická traten darin in grauen Arbeitsoveralls auf und setzten ihre vier Trapeze aus langen schwarzen Eisenstangen und dünnen Schnüren nach und nach selbst und wie zu einem Mobilé zusammen.
In diesem Entstehungsprozess entstanden wunderbar grafische Kompositionen und viele kontemplative Momente beim Betrachten der Verbindungen zwischen Mensch und Material und deren Balance. Denn dieses Trio arbeitete ungemein präzis, verbindlich und verbindend.
Sie kreierten mit "Thin Skin" ein minimalistisches Gesamtkunstwerk aus Akrobatik, Tanz, Beziehungen und Technik, das vor allem in seiner Schlichtheit und Intensität faszinierte.
Nach diesem überaus meditativen Programmpunkt wurde man zu einer interaktiven Zugfahrt mit dem wundervollen Titel "Eine Handvoll Leute und etwas, das dem Glück ähnelt" vom französischen Vélo Théâtre eingeladen. Im T‑Werk mussten die Reisenden zuerst wie im richtigen Leben unbestimmte Zeit am Bahnsteig warten, ehe sie einzeln von den beiden charmanten Zugbegleitern ihre nummerierten Tickets und erste Anweisungen erhielten.
Denn diesen Zug, mit dem sie in den kommenden 90 Minuten fahren würden, den gab es noch gar nicht. Stattdessen eine alte Bahnhofsuhr, diese zwei skurrilen Schaffner, einen einfühlsamen Musiker und einen Berg von hölzernen Klappstühlen. Schon diese erste Situation, sich daraus seinen eigenen nummerierten Sitzplatz zu ziehen, ermöglichte – wie in früheren Zeiten üblich – erste Interaktionen zwischen den zufälligen Fahrgästen.
Und ihnen folgten viele weitere, die Charlot Lemoine und José Lopez in englisch-französisch-deutschem Sprachmischmasch mit Charme, Chuzpe und (deutschem?) Ordnungssinn kreierten. So dirigierten sie die etwa 70 Reisenden bei der Herstellung einer korrekten Sitzordnung, bei der Evakuierung wegen einer herrenlosen Tasche und auch aufgrund der anstehenden nächtlichen Zug-Reinigung.
Und was in der ersten Vorstellung dieses 3. Unidram-Abends so schlicht, minimalistisch und effektiv inszeniert war, entwickelte sich hier als fantasievoll verschlungene Reise nach Roma beziehungsweise "Amor" in analoger Echtzeit, die einem an einigen Stellen zu lang werden konnte, weil man sich heutzutage vom Zugfahren vor allem die schnellstmögliche und störungsfreie Beförderung von A nach B erhofft.
Nicht so im Vélo Théâtre, dessen Macher:innen um Charlot Lemoine und Tania Castaing seit 1981 vor allem daran arbeiten, eine poetische Beziehung zum Publikum aufzubauen. Dabei haben sie die Entwicklung des Objekttheaters in Frankreich entschieden mitgeprägt und man merkt an vielen kleinen Objekt-Details, wie darüber Beziehungen auch in diesem bunten Reisekosmos entstehen.
Der Abend, bei dem man die kürzeste Zeit in einem wunderbar imaginierten Zug verbringt, findet seinen Höhepunkt mit einer altmodischen Modelleisenbahnanlage. Die die Herzen von allen, die es lieben zu spielen, höher schlagen und einen zugleich wehmütig an die Zeit, als das Reisen und Spielen noch Spaß machten und man sich vor allem Zeit dafür nahm, zurückdenken lässt.
Astrid Priebs-Tröger