Niemals aufgeben!
Es fühlte sich an wie ein großes, trotziges Aufbäumen, nicht nur vor dem nahenden Finale von Unidram, sondern vor dem sprichwörtlichen Untergang der Titanic. Als am Freitagabend die Tanz-Performance SOMATIC TRATATA, die Großstadtbilderfolgen "Babel" und das BOT-Kollisions-Konzert aufeinander trafen.
"Babel" vom Belgier Steve Salembier besteht aus einem ununterbrochenen Fluss von Videobildern, die in der Waschhausarena in Echtzeit entstehen, und eine heutige Großstadt – anfangs von außen aus der Vogelperspektive und später in ihren Innenräumen – zeigen. Man folgt schnurgeraden Straßenschluchten, taucht ein in ein abendliches Lichtermeer und regen Autoverkehr. Dies sind die einzigen Anzeichen, dass hier (noch) Menschen leben.

Ansonsten sind die Wohnungen, Bibliotheken und Geschäfte leer, die Baustellen und Paketförderbänder stehen still. Salembier erzählt, das "Babel" vor zwei Jahren in der Coronakrise entstand. In dieser Zeit hat er mit Hingabe die unzähligen maßstabsgetreuen Objekte gebaut, die in "Babel" mittels Fotografie, Videoprojektion und Ambient Soundscapes reproduziert und einzeln vor die Kamera geholt werden.
Seine Bilderfolge erinnert an den berühmten Experimentalfilm "Koyaanisqatsi", der bereits 1982 entstand und sich zivilisationskritisch mit der menschlichen Lebensweise und ihren Eingriffen in die Natur beschäftigte. Salembier zeichnet in "Babel" das Bild einer gigantischen Metropole, in der Menschen verloren (gegangen) sind. Verloren in ihr aufgrund der unmenschlichen Dimension ihrer Größe, gegangen aufgrund multipler Krisen.
Doch so lange Künstler:innen sich in Krisenzeiten auf das besinnen, was sie am besten können, besteht zumindest die Hoffnung, dass die Menschheit noch zu retten ist. Diese Botschaft überbrachten auch die großartigen Musiker des holländischen Musiktheaterquartetts BOT, die ihr Stück "Ramkoers", was Kollisionen bedeutet, diesmal mit nach Potsdam brachten.

Ein zerknautschter Umzugskarton steht verlassen auf der Bühne, zwei riesige Kugeln rollen aus dem Nirgendwo gegen Eisenwände und eine Regenrinne stürzt von einem imaginären Hausdach. Unordnung, Durcheinander, Chaos scheint ausgebrochen, als auch noch ein rotes Ölfass über die ansonsten leere Bühne rollt.
Darin steckt Job van Gorkum und beginnt wenig später – wie ein verstrubbelter Diogenes in der Tonne – zu singen und zu philosophieren. Die Worte, die er singt sind niederländisch, und weil sehr poetisch, nicht zu übersetzen. Aber deren melancholisch-trotzige Botschaft wird jedem, der sich auf das unnachahmliche BOT-Universum einlässt, schnell klar: Niemals aufgeben, besonders in schwierigen Zeiten, immer weiter machen und sich nicht verstecken.
Oder anders gesagt, jede Krise bietet auch Chancen beziehungsweise Gelegenheiten und bei BOT – jede Menge (Gebrauchs-)Gegenstände, denen zarte oder rohe Klänge zu entlocken sind, wie die Wasserpfeifenkollektion oder die orangefarbigen Salatschleudern. Und das im allgegenwärtigen BOT-Chaos dann auch noch ein Piano inklusive Spieler im Rhönrad über die Bühne rollt, ist nur einer der zahllosen Einfälle, die diese Bastler und Vollblutmusikanten trotz oder gerade wegen Kollisionen unterschiedlichster Art seit vielen Jahren ausbrüten.

Äußerst fantasie- und zudem hochgradig humorvoll war auch die "Somatic Tratata"-Perfor-mance von Hannah Shakti Bühler und Simon Mayer. Beide Performer:innen – gekleidet in weiße Hemden und dunkle Jeans – erklimmen mit Klapphockern die Treppen des Zuschauerpodests in der Reithalle des HOT. Mit einer Bodypercussion, inspiriert vom volkstümlichen Tarantella-Rhythmus hopsen sie laut knallend und beinahe synchron von der Treppe auf die Bühne runter.
Dort liefert sich das hippe Großstadtpaar, das Steve Salembiers apokalyptischer Stadtlandschaft entflohen sein könnte und doch hauptsächlich nur mit sich selbst beschäftigt ist, einen zeitgenössischen, slapstickartigen Geschlechterkampf. Der mit einem, in gleichem Atem entstandenen, nicht enden wollendem Kuss beginnt. Sich über kleine beiderseitige Gemeinheiten zu richtigen Aggressionen steigert. Mit dem gegenseitigen Kleider vom Leib-Reißen und sich wechselweise vom Schlachtfeld (der Liebe) schleppend, endet. Einfach großartig!
Astrid Priebs-Tröger