Leichtigkeit und Schwere

Fünf Tage mit ins­ge­samt elf Insze­nie­run­gen aus sie­ben euro­päi­schen Län­dern – das 29. Uni­dram-Fes­ti­val ist Geschich­te. Und auch am letz­ten Fes­ti­val­tag war es ein über­aus poli­ti­sches Thea­ter­fes­ti­val in die­ser unge­mein span­nungs­rei­chen Zeit.

Im Flu­xus-Muse­um wur­de Hei­ner Mül­lers "Traum­text Okto­ber 1995", geschrie­ben kurz vor sei­nem Tod, als Aus­gangs­ma­te­ri­al für das  Live-Hör­stück TRAUMTEXT2022 vom Pots­da­mer Kom­po­nis­ten, Musi­ker und Sound­ar­tis­ten Alex Nowitz und drei wei­te­ren Musi­kern benutzt.

TRAUMTEXT2022 © Olga Kovalevska

Mül­lers Text aus dem Okto­ber 1995 ist ein Pro­sa­ge­dicht, gera­de mal zwei Sei­ten lang. Ein vor­ge­zo­ge­nes Requi­em. Der Dich­ter träumt sich, mit sei­ner zwei­ein­halb­jäh­ri­gen Toch­ter auf den Schul­tern, in ein Was­ser­be­cken. Um sie her­um sind hohe Mau­ern aus Beton, kein Aus­weg ist in Sicht. Es ist ein schmerz­vol­ler Abschieds­text gerich­tet an die klei­ne Toch­ter, die bald kei­nen Vater mehr haben wird.

Im dem dar­aus ent­stan­de­nen, über­aus fluo­res­zie­ren­den, live auf­ge­führ­tem Hör­stück, das die per­sön­li­che Abschieds­si­tua­ti­on im Kriegs­jahr 2022 auf­nimmt, kommt zu der indi­vi­du­el­len Mül­lerschen Aus­weg­lo­sig­keit eine wei­te­re Dimen­si­on hin­zu. Wor­te wie Wan­de­rung, Was­ser, Nacht, Nebel­wand, Schlaf­lo­sig­keit und Angst umrei­ßen bei­spiel- und alp­traum­haft eine von vie­len (aktu­el­len) Fluchtgeschichten.

Squa­dra Sua, Across, ©Anna Benháková

Denn die ers­ten und wei­te­re Text­zei­len spricht eine Frau­en­stim­me mit Akzent, man­che ihrer Wor­te sind kaum zu ver­ste­hen.  Mit Stim­me, Saxo­phon, Fen­der Rho­des  und Bass­kla­ri­net­te sezie­ren und erwei­tern die vier Musi­ker Mül­lers Text und legen berüh­rend und nach­drück­lich eine uni­ver­sel­le Dimen­si­on frei.

Den thea­tra­len Schluss­punkt bil­de­ten indes im T‑Werk die tsche­chi­schen Anarcho-Clowns von Squa­dra Sua. Ihr sur­rea­les Bewe­gungs­thea­ter "Accross" führ­te einen lan­ge Zeit auf eine fal­sche Fähr­te. Man lacht fast Trä­nen über die­se fünf Ker­le, die end­lich voll­stän­dig mit grau­en Anzü­gen beklei­det eher komi­sche Facet­ten von Männ­lich­keit präsentieren.

Squa­dra Sua, Across, ©Anna Benháková

Denn kaum haben sie alle ihre schi­cken Jacken ange­zo­gen, agie­ren sie wie Models oder Poli­ti­ker, Büro­hengs­te oder Show­mas­ter – Haupt­sa­che Ram­pen­licht, immer dickes Ego. Es geht um Macht, Kon­kur­renz, aber auch immer wie­der um Weich­heit und Zusam­men­ar­beit. Es wird getanzt und gesun­gen und nicht nur ein­mal der Satz aller Sät­ze von Shake­speare zitiert.

Doch dann kom­men Zin­kei­mer und lan­ge Holz­stö­cke ins Spiel und die­ses wan­delt sich bei­na­he unmerk­lich. Denn es dau­ert eine Wei­le, bis die Eimer zu Hel­men und die Stö­cke zu Spieß­ru­ten bzw. Waf­fen wer­den. Und sich aus dem "To be or not to be" ein ein­drück­li­cher Ver­sehr­ten- bzw. Toten­tanz entwickelt.

Wahn­sinn, zwi­schen wel­chen emo­tio­na­len Polen gera­de die­se Arbeit oszil­lier­te, "Across" geht zudem spiel­tech­nisch weit über das Gen­re der klas­si­schen Clow­ne­rie hin­aus und ver­bin­det Phy­si­cal Theat­re mit Ele­men­ten des Objekttheaters.

Und groß­ar­tig, wie sich hier, wie auch in eini­gen ande­ren Auf­füh­run­gen des Fes­ti­vals, beson­ders Leich­tig­keit und Schwe­re, Lachen und Trau­rig­keit mit­ein­an­der ver­ban­den. Und wie man selbst zwi­schen die­sen Gegen­sät­zen aus­dau­ernd hin- und her­ge­wor­fen wurde.

Für mich war Uni­dram 2023 – wie schon in den 15 Jah­ren davor – in jedem Augen­blick berei­chernd, oft beglü­ckend und die fünf Tage und Aben­de non­stop auch sehr her­aus­for­dernd, denn so ein abwechs­lungs­rei­cher Thea­ter-Mara­thon will erst mal reflek­tie­rend und tages­ak­tu­ell schrei­bend bewäl­tigt sein.

Und mit Bezug auf Wolf Bier­manns berühm­te Ver­se aus den 1970er Jah­ren kam mir des­sen Auf­for­de­rung "Lasst Euch nicht ver­här­ten in einer har­ten Zeit!" gera­de als Resü­mee die­ser Vor­ju­bi­lä­ums-Aus­ga­be in den Sinn. Dan­ke Unidram!

Astrid Priebs-Trö­ger

12. November 2023 von Textur-Buero
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