Fressen und Glotzen

"Herz­lich Will­kom­men! Die Besuchs­zeit beginnt nun!" – so lud am 2. Uni­dram-Tag eine Pup­pe mit hoher piep­si­ger Stim­me ins Kes­sel­haus ein. Drin­nen im war­men hel­len Raum war­te­te außer­dem auf jede*n ein Becher Pop­corn. Die Ani­ma­teu­rin mit lila Tüll­rock über­schlug sich fast vor guter Lau­ne und lud das Publi­kum zum Klat­schen und Foto­gra­fie­ren ein.

Doch die Pup­pen­spie­ler, die in grau­en Gum­mi­an­zü­gen steck­ten und ihre Gesich­ter hin­ter eben­sol­chen Mas­ken ver­bar­gen,  stör­ten die­sen Rund­um-Wohl­fühl-Ein­druck. Und noch mehr stutz­te ich, als das Girl sag­te, dass jetzt von ihr ein "letz­tes Foto" zu schie­ßen sei.

Ari­el Doron/Besuchszeit vorbei/Foto: Mar­co Prill

 

Ari­el Doron, der 2015 mit "Pla­s­tic Heroes" bei Uni­dram zu Gast war, unter­nimmt auch in "Besuchs­zeit vor­bei" den Ver­such, Erfah­run­gen von Gewalt fühl­bar zu machen. Nur sit­zen die Besu­cher* innen dies­mal nicht im Zuschau­er­raum, son­dern befin­den sich inmit­ten einer maka­bren Szenerie.

Erfahrungen von Gewalt fühlbar machen

Denn die über­dreh­te Ani­ma­teu­rin wird als ers­tes ohne Ankün­di­gung von einem der bei­den hohen Podes­te, die sich an den Stirn­sei­ten des Thea­ter­rau­mes befin­den, gestürzt. Ihr fol­gen stumm und in kur­zem Abstand ein Jun­ge mit roten Haa­ren, ein alter dicker Mann, eine älte­re Kokot­te. Von einem Mäd­chen mit Mon­go­lis­mus hält der uni­for­mier­te Pup­pen­spie­ler schließ­lich nur noch tri­um­phie­rend den Kopf in der Hand.

Eine Klapp­maul­pup­pe schreit kurz dar­auf mark­erschüt­ternd, drei Sperr­holz­pup­pen mar­schie­ren auf, was fast wie Bei­fall klingt. Und selbst als die sich hef­tig weh­ren­den Zwil­lings­jun­gen mit weit auf­ge­ris­se­nen Augen auf den Boden klat­schen, ver­hal­ten sich Vie­le im Publi­kum selt­sam ungerührt.

Ari­el Doron/Besuchszeit vorbei/Foto: Mar­co Prill

"Es waren doch nur Pup­pen und Thea­ter", höre ich nach der Vor­stel­lung oft. Doch nach­dem ein – sehr lebens­ech­ter – klei­ner Jun­ge sei­nem Pei­ni­ger und dem Publi­kum sekun­den­lang ins Gesicht sieht, hält es eine älte­re Dame nicht mehr aus. Sie fängt das abstür­zen­de Pup­pen­kind auf und hält es fest im Arm. Als ich zu ihr gehe, um ihr zu dan­ken, wischt sie sich Trä­nen aus den Augen.

Das ist der Durch­bruch in der anhal­tend beklem­men­den Sze­ne­rie. Jetzt fan­gen auch ande­re Zuschauer*innen an, den Uni­for­mier­ten in den Arm zu fal­len, Kat­zen- und wei­te­re Kin­der­pup­pen auf­zu­fan­gen. Doch man­che ste­hen nach wie vor mit ver­schränk­ten Armen da und las­sen sich noch kurz vor dem Kas­per­le-Tod zum kol­lek­ti­ven Tri­trat­ral­la­la-Gesang verführen.

Die moderne Unterhaltungsindustrie wird vorgeführt

Und: Es geht noch schlim­mer. Die Uni­for­mier­ten machen Pau­se und ver­tei­len Mohr­rü­ben. Und es gibt nicht weni­ge, die wei­ter unge­rührt fres­sen und glotzen.

So poin­tiert sar­kas­tisch ist die moder­ne Unter­hal­tungs­in­dus­trie lan­ge nicht vor­ge­führt wor­den. Auch Grup­pen­zwän­ge wer­den the­ma­ti­siert. Und es ist, nach­dem was pas­siert ist, und sich ein Pup­pen­lei­chen­berg im Zen­trum türmt, eigent­lich unver­ständ­lich, dass sich immer noch ein­zel­ne Hän­de heben, als wie in einer Cas­ting­show dar­über abzu­stim­men ist, wel­cher von den fünf Kan­di­da­ten getö­tet wer­den soll.

Ari­el Doron/Besuchszeit vorbei/Foto: Mar­co Prill

Auch da höre ich spä­ter Aus­flüch­te wie "Ich wuss­te doch nicht, ob ich dafür oder dage­gen stim­me." Herr­gott noch­mal,  wer ermäch­tigt uns eigent­lich Herr über Leben und Tod zu sein? Soll­ten nicht in unse­rem (deut­schen) kol­lek­ti­ven Unter­be­wusst­sein sofort die ein­ge­brann­ten Holo­caust-Bil­der auf­flam­men, um sol­che Ent­schei­dun­gen ein für alle Mal kon­se­quent zu ver­wei­gern? Der Israe­li Ari­el Doron hält nicht nur uns mit "Besuchs­zeit vor­bei" unmiss­ver­ständ­lich einen Spie­gel vor.

Die Verwüstung beginnt vor dem Krieg

Mir kam danach wie­der sied­end­heiß ein Satz in den Sinn, den ich 2016 in der Insze­nie­rung "Lich­tung" vom O‑Team Stutt­gart gehört habe: Die (eigent­li­che) Ver­wüs­tung beginnt vor dem Krieg.

Astrid Priebs-Trö­ger

P.S. Die Dame, die den klei­nen Jun­gen ret­te­te, war übri­gens der deut­schen Spra­che nicht mäch­tig. Sie war ledig­lich ihrem Her­zen gefolgt.

01. November 2018 von admin
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