Männer sterben schön(er)
Nebelwallende Dunkelheit, schmerzerfüllte Stabat Mater-Klänge und hoch lodernde Feuer-Tore: Das Sterben hat beim diesjährigen 23. Unidram-Festival ganz groß Hof gehalten. Mal schaurig-schön, ja geradezu magisch-anziehend aber auch gewaltvoll zerstörend und penetrant stinkend.
Apokalyptische Bilder – hauptsächlich von Männern erdacht und ausgeführt. Denn in nur einer der insgesamt zwölf Inszenierungen aus sieben Ländern standen Frauen auf der Bühne.
Das war anfangs nicht so gedacht, sagte der Leiter des Festivals Jens-Uwe Sprengel, sondern habe sich zufällig ergeben. Vor allem, als feststand, dass die beiden Theateringenieure des St. Petersburger Akhe-Theaters mit gleich vier Inszenierungen rund um das Tibetanische Totenbuch mehr als ein Viertel der Aufführungen bestreiten würden. Und dass sie sowohl zur Eröffnung als auch zum Abschluss des Festivals das letzte Wort respektive die abschließenden Bilder haben würden.
Doch am Freitagabend ging es (zurück) in den Wald, als Ferenc Fehér und Balázc Szitás in "TAO TE" nebeneinander am Feuer sitzen. Anscheinend Idylle pur – doch vom ersten Moment an trügerisch. Denn die beiden grauen Anzugträger waren nicht auf einem Wochenendausflug. Sondern sie führten in diesem tiefen Wald tanzend nur ihre Kämpfe fort, die sie auch sonst (permanent) ausfechten. Doch – und das ist das Hoffnungsvolle daran, dass neben all dem zermürbenden Destruktiven, beide auch immer wieder kurz in den Spielemodus wechselten und ihre Männerbeziehung dann auch leicht und zärtlich sein konnte.
Die letzte Aufführung am vollgepackten Freitagabend ging nicht nur räumlich noch einen Schritt weiter – in ein dunkles (unbewusstes) Zwischenreich. Der Franzose Etienne Saglio, ein international gefeierter Meister der Magie, die dem Neuen Circus zugehörig ist, entwickelt in "Les Limbes" einen ganz eigenen, sehr magischen, manchmal bizarren, jedoch immer zauberhaften Theaterkosmos, der sich mit Worten kaum beschreiben lässt. Der junge Meister selbst, mehrere lebensgroße Puppen, die ihm bis aufs Haar gleichen, ein roter Samtmantel mit aufgestecktem Totenkopf, ein Schwert und jede Menge zarteste Plastikfolie wagten einen fulminanten Tanz – hinein ins geheimnisvolle Reich der Toten.
Antonio Vivaldis "Stabat Mater" – göttlich gesungen, nein, nicht von einer Frau, sondern vom spanischen Countertenor Carlos Mena – schafft dabei einen mentalen Raum, der nicht der Vorhölle von Dante, sondern einem verdammt schönen Zwischenreich gleicht, das das Sterben zu einem anziehenden Moment macht, hier beinahe zum Event werden lässt. Die überwiegend jungen Zuschauer am Freitagabend waren hörbar begeistert von so viel Raffinesse, Artistik und bildgewaltiger Schönheit.
Ziemlich verunglückt wirkte hingegen die "Forever/Never"-Inszenierung des israelischen Clipa-Theaters, die die Gewalt im israelischen Alltag am Samstagabend an den Genregrenzen zwischen Bildender Kunst, Tanz und Performance darstellen wollte. Im Foyer der Reithalle A zogen die vier Darstellerinnen und drei Darsteller unter dem kristallenen Lüster – anders als im Programm angekündigt – eine überaus trashige Persiflage auf allgegenwärtige Fernsehshows in einer immer hysterischer werdenden Endlosschleife durch. Und da man im Theater keine Fernbedienung zur Hand hat, blieb einem nur übrig, schon vor Ende des enervierenden Spektakels den Ort des Geschehens fluchtartig zu verlassen.
Um in der Zwischenzeit im neuen Unidram-Festivalzelt die vergangenen Tage Revue passieren zu lassen und die Highlights der überaus intensiven Theaterwoche zu erinnern. Die fallen sicher bei jedem anders aus, doch "Blind" von Duda Paiva, "Lichtung" vom O‑Team Stuttgart und allen voran "Les Limbes" von Etienne Saglio gehören unbedingt dazu. Um sich dann – ganz am Ende – noch der vierten Inszenierung der Akhe-Ingenieure Maxim Isaev und Pavel Semchenko auszuliefern. "Self-Realization" übertitelt, die gewohnt martialisch und bildstark daherkam und bei der nicht zu Stabat Mater– sondern mit ohrenbetäubenden Drum- und Elektrogitarrenklängen und flackerndem Stroboskoplicht dem Ende entgegengegangen wird.
"Typisch männlich" eben – und ziemlich selbstherrlich obendrein. Kein Wunder, dass die Welt gerade nicht nur auf dem Theater fantastische Untergangszenarien entwirft, sondern auf ziemlich reale zusteuert. Und wenn Künstler sensible Seismografen gesellschaftlicher Erschütterungen und Entwicklungen sind, hat dieses 23. Unidram- Theaterfestival besonders viele, formal sehr unterschiedliche "Passionswege" versammelt. Zum Glück wurde dabei auch immer wieder gelacht und einigen der "harten" Männer im Publikum ist beim Anblick echten Blutes in "Trial. Six Worlds" – ganz unmännlich – einfach schlecht geworden. Wenn das kein Anlass zur Hoffnung ist!
Astrid Priebs-Tröger
Dieser Artikel erschien zuerst in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (PNN) vom 14. November 2016