Reise zu den eigenen Wurzeln
Es ist gar nicht so leicht, die Flut der Bilder, Gedanken und Assoziationen zu bündeln, wenn man "Kyo Shu" – Briefe nach Hause mit Noriko Seki vom Theater Nadi gesehen hat. Dieses Bewegungstheater mit Masken und Musik feierte im September im T‑Werk Premiere. "Kyo Shu" bedeutet im Japanischen Heimweh und Herbstschmerz zugleich und die japanische Schauspielerin Noriko Seki, beleuchtet in der Inszenierung von Kenneth George ihr eigenes Leben.
Doch zuerst sitzt Seki entspannt und konzentriert zugleich mit geschlossenen Augen auf einem Hocker und tut nichts. Jedenfalls nichts Sichtbares. Man sieht eine Frau im halben Lotussitz, nicht mehr jung, noch nicht alt, die einfach da ist. Ein paar Augenblicke später hat sie ihre dunkel-blitzenden Augen geöffnet und verwandelt sich schnurstracks in eine fidele Alte, die mit ihren Stühlen und Hockern wie mit alten Bekannten redet und gebückt unter der Last ihrer Jahre durchs Haus läuft und immer wieder neue Gäste freundlich und asiatisch ehrerbietig begrüßt. Eingespieltes Stimmengewirr untermalt diese lebhafte Assoziation. Sehr viel Einfühlungs- und Improvisationsvermögen bewies Matthias Peter, der Noriko Sekis Reise musikalisch begleitete eine ungemein dichte Atmosphäre erzeugte.
Gut gesetzte Brüche in der gesamten Inszenierung
Dann bricht dieser Erinnerungsfetzen plötzlich ab und Seki ist eine Frau mitten im Hier und Jetzt, die atemlos von Aufgabe zu Aufgabe hastet. Wunderbar, wie sie dies mit zwei Stühlen und einem Hocker, die als Computer, Küche oder Schrank dienen, fast nur mit Gesten erzählt. Und wie, als sie endlich in Ruhe einen Tee trinken will, das Telefon klingelt und alles zunichtemacht. In einer nächsten Szene, die sich anschließt, geht es um ihre Kindheit in Japan. Auch hier, und dies durchzieht die gesamte Inszenierung, wird mit gut gesetzten Brüchen gearbeitet.
Man bekommt gar nicht die Gelegenheit, sich lange und linear in eine der Episoden einzuspinnen, sondern folgt Sekis Gedankensprüngen und Assoziationen überrascht und bereitwillig. Auch wenn die erzählte Kindheitsgeschichte – das Mädchen verteilte die Geldscheine aus dem Portemonnaie der Mutter über die Briefkästen der Nachbarschaft, weil sie dies beim Briefboten gesehen hatte – dann direkt ins Chaos übergeht. Seki liegt am Boden und kriecht mit verbundenen Augen unter jetzt umgekippten Stühlen hindurch – wahrscheinlich eine Erinnerung an das Erdbeben von 1995, das auch ihre Geburtsstadt Osaka tangierte.
Flüchtige Assoziationen und berührende Bilder
Ein Jahr später verließ Noriko Seki ihre Heimat und zog hinaus in die Welt. In der Inszenierung verhüllt sie dafür die Stühle sorgfältig mit dünnen Baumwolltüchern und faltet erwartungsfroh ein Papierschiff. Dabei eingespielt wird der Brief ihres Vaters, in dem dieser über seine eigene Entscheidung reflektiert, ob es richtig war, vom Land in die Stadt zu gehen. Auch das wieder nur eine flüchtige Assoziation und dann kommen noch ein paar sehr berührende Bilder, der aufs Wesentliche reduzierten, wie ein Holzschnitt anmutenden Inszenierung. Die nicht nur wegen ihrer Brüche, sondern auch wegen ihres immer wieder aufblitzenden Humors überzeugt.
Seki, die ein helles Doppelkleid trägt, wird mit den Baumwolltüchern zur Braut, schließlich zur jungen Mutter dadurch, dass sie ein solches zusammengeknüllt als Kind liebevoll im Arm hält. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat Noriko Seki fast alle Lebensstationen einer Frau mit wunderbar flexiblem Körpereinsatz, aussagekräftigen Gesten und minimalem Requisiteneinsatz verkörpert. Kein Wunder, beruht doch die Inszenierung auf der Auseinandersetzung mit dem Buch "Der Tanz der Großen Mutter" von Clarissa Pinkola Estés.
Jung sein im Alter und reif sein in der Jugend
Und bei Seki tritt denn auch deren berühmte Sentenz "Jung sein im Alter und reif sein in der Jugend" sehr plastisch zutage. Man schaut der wandlungsfähigen Schauspielerin gern zu und ist auch nicht überrascht, dass sie sich dann auch noch in die akkordeonspielende Clownin, die sie ja im ‚echten‘ Leben auch ist, verwandelt. Es macht ungemein Spaß, das spielerische und bewegungstechnische Repertoire von Noriko Seki hier so geballt zu sehen und sie so persönlich zu erleben.
Und doch nimmt man ihr den "Herbstschmerz" nicht ganz ab. Vielleicht, weil Seki selbst für die Rolle der "weisen Frau" doch noch ein wenig zu jung ist. Schön ist aber, dass sie sich für den Lebensherbst und –winter von Frauen interessiert und den "weisen Frauen" dabei eine wichtige Rolle zuerkennt. Und wenn sie eine von ihnen am Ende mit Maske und gemessenen rituellen Bewegungen verkörpert, so ist das schauspielerisch überzeugend. Insgesamt ist diese intime Collage so etwas wie die Vergewisserung ihrer Wurzeln und die Ahnung davon, wie wichtig diese für den eigenen Lebensweg sind.
Astrid Priebs-Tröger
Dieser Text erschien zuerst in den Potsdamer Neuesten Nachrichten vom 25.09.17