Viele(s) sein
Flechten, jene symbiotischen Lebensgemeinschaften, die u. a. aus Algen und Pilzen bestehen können, waren der Ausgangspunkt für Adi Weinbergs neue Solochoreografie. Dieses "Material" entspricht dem Zeitgeist und der Suche nach vielen differenzierten Selbst (-bildern).
Jetzt ist die israelische Tänzerin und Choreografin bei Dance in Residence Brandenburg in der fabrik Potsdam zu Gast und ihr Stück (ursprünglich: Hazazit/Flechten) hat sich inzwischen motivisch verändert. Noch immer geht es Adi Weinberg um viele verschiedene Facetten u. a. von Weiblichkeit.
Weinberg zitiert die US-amerikanische Feministin und Dichterin Adrienne Rich (1929–2012), die sagte "Das Problem war, dass wir nicht wussten, wen wir meinten, wenn wir 'wir' sagten."
Zudem wollen Weinberg und ihre Dramaturgin Cat Gerrard die immer noch gesellschaftlich vorgegebene Binarität (weiblich/männlich) verlassen und darüber nachdenken, was menschlich ohne kulturelle Geschlechtszuschreibungen möglich ist.
Adi Weinberg selbst ist schon eine Weile auf der Reise zu ihren sehr unterschiedlichen Facetten. Sie wurde 1985 in der Nähe von Haifa geboren, leistete als sehr junge Frau Dienst in der israelischen Armee und lernte parallel dazu u. a. Gaga tanzen, absolvierte später eine Tanzausbildung in der Vertigo Dance Company.
Danach zog es sie nach Polen, in die Heimat ihrer Großeltern, die diese während des Holocaust als Kind beziehungsweise Jugendlicher verlassen mussten. Weinberg selbst verliebte sich in Polen und heiratete dort auch.
Und während sie in Warschau eine Gaga-Community aufbaut(e), lernte sie nach ihrer Scheidung in Berlin Cat Gerrard, die aus London stammt, kennen. Und pendelt seitdem zwischen Warschau und Berlin.
Den Ausbruch aus sozial und/oder kulturell vorgegebenen Rollen wagte auch die mythologische Gestalt der Pasiphae, die Tochter des Sonnengottes Helios, die sich in einen Stier verliebte und mit ihm den Minotaurus – ein Wesen mit menschlichem Körper und Stierkopf – zeugte.
Ihre Geschichte bildet inzwischen motivisch die Hauptachse von Adi Weinbergs neuem Solostück, das jetzt den Titel "If the bull won’t come" trägt. Bei einem Probenbesuch ist zu spüren, wie intensiv diese Suche ist.
Adi Weinberg hat mit ihren 36 Jahren selbst eine fast mädchenhaft-zarte Ausstrahlung. Das ändert sich schlagartig, wenn sie eine Bühne betritt. Augenblicklich verwandelt sie sich in eine toughe Amazone, die (beinahe) jedem Stier furchtlos ins Auge blickt.
In "If the bull won´t come" verkörpert sie beide Charaktere: die Frau, die sich hingibt und den nicht domestizierten Charakter des wilden Tieres. "Das ist nicht einfach", sagt sie, "denn es geht auch ums Überleben."
Was ist hart, was weich, was ist domestiziert, was wild – auch das sind Fragen, die die beiden sensiblen Frauen auf ihrer gemeinsamen künstlerischen Suche in "If the bull won´t come" berühren.
Inspiriert wurden sie dabei auch von den Frau-Tier-Skulpturen der zeitgenössischen südafrikanischen Künstlerin Nandipha Mntambo, die auch immer wieder mit der Haut von Kühen arbeitet.
In der kurzen Probensequenz, die ich sehe, spüre ich raue, ungezügelte Energie, zudem Wut und Angst, aber auch Hingabe, Schmerz und Stille. Und vor allem das Fließen zwischen diesen Polen und bin sehr berührt.
Astrid Priebs-Tröger
Die Premiere von "If the bull won´t come" findet am 18./19. November 2022 in der fabrik Potsdam statt.
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."