Work in Progress
In den Sommerferien, wenn der reguläre Spielbetrieb ruht, wird in vielen Theatern hinter verschlossenen Türen eifrig geprobt. Die fabrik Potsdam stellt ihre Räume in ihrem Programm "Étape danse" seit 2011 jedes Jahr Choreograf:innen aus Frankreich, Deutschland und Italien zur Verfügung und veranstaltet quasi zur Saisoneröffnung ein kostenloses Showing für alle Tanzinteressierten.
In diesem Jahr waren die brasilianische Choreografin Michelle Moura, die seit 2017 in Berlin lebt, der tunesische Choreograf Hamdi Dridi, der in Frankreich lebt und arbeitet und der italienische Choreograf Daniele Ninarello in Potsdam zu Gast.
Dridi ist seit einiger Zeit regelmäßig in der fabrik, zeigte er doch bei den Tanztagen 2020 und 2022 seine jeweils neuesten Produktionen. Ninarello war 2018 beim Festival Jazzoffensive zu Gast und Moura jetzt zum ersten Mal da. Mit ihr begann das Showing im T‑Werk und was sie da mit ihren beiden sehr "erdigen" Tänzer: innen präsentierte, machte unbedingt Lust auf mehr.
"Lessons for cadavers" ist ihre Produktion betitelt und die zwei kurzen Ausschnitte, die zu sehen waren, zeigten einen ganz anderen Umgang mit dem Tod als in unserer Kultur. Anfangs liegen die Frau und der Mann rücklings und bewegungslos auf dem Boden. Sie scheinen mit Hüften, Schultern und Fersen wie festgewachsen an der Erde zu sein.
Nur allmählich kommt Bewegung zuerst in einzelne Gliedmaßen und es dauert seine Zeit, bis beide erst auf die Knie und dann wieder auf ihre Füße kommen; untermalt ist die bizarre Szenerie mit Geräuschen, wie man sie aus Filmen mit Friedhofsszenen kennt.
"Der Tod ist ein fortlaufender Prozess" steht auf dem Programmzettel, "er ermöglicht das Entstehen neuer Existenzen und den Zerfall etablierter Formen" – ein magisches Reich. Plötzlich scheinen die beiden Untoten zu Hühnervögeln zu mutieren, die flügelschlagend immer wieder aufgeregt hin- und herrennen.
Und als diese seltsame Szenerie irgendwann ins Pinkfarbige und zu Technomusik wechselt, scheinen sie Diskotänzer, die immer wieder am eigenen Daumen lutschen, zu sein. Und dazwischen – blitzlichtartig – geben sich Thanatos und Eros die Ehre. "Lessons for cadavers" wird im November 2022 in den Berliner Sophiensälen zur Premiere kommen. Mich hat das Showing angeregt, unbedingt mehr von dieser Choreografin sehen zu wollen.
Sehr raumgreifend und dynamisch beginnt hingegen Hamdi Dridis "Oms de Ménage". Drei Männer durchmessen diagonal und kraftvoll den viereckigen Raum, vom anfänglichen, beinahe militärischen Gleichschritt immer wieder ins Tänzerische wechselnd.
Dridis sehr männliche Choreografie, die Hip-Hop Elemente verwendet und manchmal energetisch auch an Flamenco erinnert, bezieht auch Live-Musik mit Trommeln und Gesang ein und soll eine Hommage auf die Frauen ihres Lebens – u. a. Dridis Mutter – sein. Sie kommt im Herbst in Frankreich zur Premiere.
Daniele Ninarello steht mit "Healing Together" noch ganz am Anfang des Probenprozesses, und hat mit seinen vier Tänzer:innen die ersten Schritte in der zweiwöchigen Residenz in Potsdam gemacht.
"Healing together" ist "dem Konzept des Protests und dem Wunsch nach einem eigenen Raum gewidmet". Anfangs stehen die vier Performer: innen – ein Mann und drei Frauen – paarweise in einer Vierergruppe, minutenlang unbeweglich. Es war beinahe meditativ und sehr pur ohne Ton und Beleuchtung, zu beobachten, wie sich alle nach und nach aus ihrer Ruheposition und dem angestammten Platz entfernen. Wie die Frauen dabei viel mehr riskieren und am Ende dieser ersten kurzen Sequenz doch (wieder) der Mann die Reihe anführt.
Bei dem sich anschließenden Get-together im fabrik-Garten konnte man den Künstler:innen und anderen Tanzbegeisterten nach der Sommerpause wieder ganz direkt begegnen.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."