Zerstören, Töten, Beten
Dieses Buch ist definitiv keine besinnliche Feiertagslektüre, denn der Schauspieler Edgar Selge hat sich in "Hast Du uns endlich gefunden" die entscheidenden Erlebnisse und überaus schmerzhaften Prägungen seiner westdeutschen Nachkriegskindheit von der Seele geschrieben.
Im ersten Pandemiejahr 2020 hat der heute 73-Jährige erstmalig zum Stift gegriffen, um das, was ihm in seiner Kindheit widerfuhr, zu Papier zu bringen.
Schon die Ausgangssituation ist eine besondere. Sein Vater arbeitet in Herford als Direktor einer Jugendstrafanstalt und veranstaltet für die jugendlichen Delinquenten regelmäßig private Hauskonzerte. Dabei wird keine Mühe gescheut, diese angeknacksten, verlorenen Seelen mithilfe der Kraft der klassischen Musik, deren großer Liebhaber der Vater ist, zu öffnen respektive zu berühren.
Ein edles Anliegen, das aber sofort einen äußerst schalen Beigeschmack bekommt, wenn man erfährt, dass der muszierende Gefängnisdirektor, seine eigenen Söhne und in diesem Fall besonders den fantasievollen und frühreifen Edgar immer wieder gnadenlos schlägt. Sei es, weil der 12-Jährige permanent lügt, oder besser gesagt, in seiner eigenen Fantasie-Welt lebt, oder die Latein-Vokabeln nicht schnell genug repetieren kann.
Diese erniedrigenden Situationen sind beim Lesen nicht leicht zu ertragen, genauso wenig wie die sexuellen Übergriffe des Patriarchen auf alle seine männlichen Nachkommen. Ich musste das Buch immer wieder weglegen, weil ich das permanente/hochemotionale Spannungsverhältnis von Kultur(-ausübung) und roher Gewalt kaum ausgehalten habe.
Denn unter dem Deckmantel sogenannter bürgerlicher Tugenden und starker protestantischer Ethik erstarrt hier nahezu jede natürliche Lebensregung und Freude. Und schon das junge Kind wird zum Funktionieren gezwungen. Einen kleinen Freiraum hat der Junge scheinbar beim freien Spielen, dem er draußen zumeist allein nachgeht.
Doch auch dies wird zur Illusion, als der Junge seinem weitaus älteren und bereits erwachsenen Bruder erzählt, was in dieser Zeit mit ihm geschieht: "Genau genommen spiele ich nur: Zerstören, Töten, und danach Gebet … immer in dieser Reihenfolge: Zerstören, Töten, Beten."
Und nicht erst hier, aber besonders hier wird einem klar, dass die verdrängten Kriegserlebnisse und –traumata der Vätergeneration im Gewand der transgenerationalen Vererbung im Knaben zerstörerisch weiterwirken. Und zwar nicht nur direkt, sondern weitaus brutaler indirekt.
Direkt, als ein älterer Bruder beim Spielen und der Detonation einer Granate tödlich verunglückt und indirekt, als der jüngste Bruder in jungen Jahren schwer erkrankt und schließlich stirbt, und der seelisch verpanzerte Edgar nicht in der Lage ist, seinen Bedürfnissen am Lebensende spontan Folge zu leisten.
Das Buch ist jedoch keine billige Abrechnung mit den Eltern, sondern eine überaus genaue und zumeist liebevolle Beschreibung ihrer Charaktere und ihres gesellschaftlichen und individuellen Geworden Seins.
Es fasziniert durch sein lebendiges Erzählen, die starken Bilder und die atmosphärische Dichte der Schilderungen sowie eine packende Dramaturgie. Seine hohe literarische Qualität entsteht auch durch die Einbeziehung von Träumen und Tagträumen sowie die ungeschönte Beschreibung der Erblasten, die unsere Gesellschaft bis heute prägen und zerstören.
Wie nahe Kultur und Barbarei beieinander liegen, weiß man aus Schilderungen von KZ-Überlebenden. Edgar Selge hat dem eine weitere sehr persönliche Dimension hinzugefügt.
Astrid Priebs-Tröger
14. Dezember 2021 von Textur-Buero
Kategorien: Literatur |
Schlagwörter: Autobiografie, Barbarei, Edgar Selge, Kultur, Nachkriegskindheit |
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