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Es pas­siert ein­fach. Eines Tages taucht ein Nas­horn auf und nach und nach ver­spü­ren immer mehr Men­schen das Bedürf­nis, eben­falls ein alles nie­der­tram­peln­der Dick­häu­ter zu sein. Die Popu­la­ti­on wächst rasant und alle – bis auf einen – ste­cken sich qua­si epi­de­misch mit "Rhi­no­ze­ri­tis" an. 

Das ist das absurd-poe­ti­sche Gesche­hen, das Eugè­ne Ionesco in sei­nem berühm­ten Stück "Die Nas­hör­ner" erzählt.  Das vier­zehn Jah­re nach dem 2. Welt­krieg die Ent­ste­hung tota­li­tä­rer Sys­te­me the­ma­ti­siert. Und dass schon des­we­gen absurd anmu­tet, weil Nas­hör­ner als Ein­zel­gän­ger gelten.

Worin besteht die Faszination, ein "Nashorn" zu sein?

Wor­in besteht die Fas­zi­na­ti­on, ein Nas­horn zu sein –  ist eine der Fra­gen, die man sich stellt, wenn man das Stück von Ionesco liest. Doch in der Insze­nie­rung von Esther Hat­ten­bach, die  im  Hans Otto Thea­ter zur Pre­mie­re kam, kommt die­se Anzie­hungs­kraft beim eige­nen Zuschau­en kaum auf.

Denn die auch dort immer stär­ker wer­den­de Rhi­no­ze­ros-Popu­la­ti­on bleibt nicht nur im Wort­sinn unsicht­bar. Ledig­lich lau­tes Grun­zen, Schnau­ben, Tram­peln behaup­tet akus­tisch deren Prä­senz. Anders als in Ionescos Vor­la­ge. In der der Autor der Beschrei­bung der kör­per­lich mäch­ti­gen Tie­re und ihrer Robust­heit sehr viel Raum gewährt und auch dar­über Fas­zi­na­ti­on nach­voll­zieh­bar wer­den lässt. Bei­spiels­wei­se bei der für alle sicht­ba­ren, kör­per­li­chen Ver­wand­lung von Hans – der bei Hat­ten­bach schon anfangs und äußer­lich gau­land­desk mit Lese­bril­le und Tier­kra­wat­te von Jörg Dathe – dar­ge­stellt wird und so schon ein "Nas­horn" ist.

Spiegelbild einer lauten und oberflächlichen Gesellschaft

Die Regis­seu­rin  inves­tiert ins­ge­samt viel Raum und Ideen in die Zeich­nung der (gegen­wär­ti­gen) Gesell­schaft der klei­nen, hier, in Bran­den­burg ange­sie­del­ten Stadt, in der Hans und Beh­rin­ger, Stech und Wis­ser, Dai­sy und Frau Ochs, die Kell­ne­rin und die Haus­frau, der Wirt, der Herr und nicht zuletzt der Logi­ker – als haupt­säch­li­che Ver­tre­ter eines (klein-) bür­ger­li­chen Milieus leben.

Alle sind mit ihren bun­ten bir­nen­för­mi­gen Klei­dern und den kin­di­schen Drei­vier­tel­ho­sen (Kos­tü­me: Regi­na Lorenz-Schweer) Puz­zle-Tei­le einer lau­ten und ober­fläch­li­chen Gesell­schaft, die ästhe­tisch Anklän­ge an "Ali­ce im Wun­der­land" ent­wi­ckelt. Und in der  stän­dig gere­det und erklärt, erklärt und gere­det und letzt­lich alles zer­re­det wird. So auch der Fakt, dass ein oder zwei Nas­hör­ner urplötz­lich in der Stadt auf­ge­taucht sind.  Hat­ten­bach zeigt von Anfang an – u. a. durch die Kos­tü­mie­rung und den Sprach­ges­tus – die Kon­for­mi­tät der Ein­zel­nen; selbst Beh­rin­ger, der bei Ionesco noch ganz der Außen­sei­ter ist, gehört hier zum Mainstream.

Die Konformität des Einzelnen

Woher die Nas­hör­ner kom­men, wel­che Gefahr von ihnen aus­geht, wie die­ser (recht­zei­tig) bei­zu­kom­men wäre – das alles ist neben­säch­lich und nicht der Rede, ja nicht ein­mal eines Gedan­kens wert. Statt­des­sen fängt man immer wie­der an zu strei­ten, ob die ein­hor­ni­gen afri­ka­ni­sche und die zwei­hor­ni­gen asia­ti­sche Nas­hör­ner – oder war es umge­kehrt? – sind.

Die­ses End­los­schlei­fen-Gequas­sel und die sich dar­aus hoch­spu­len­de Hys­te­rie – ins­ge­samt eine über­zeu­gend geschlos­se­ne Ensem­ble­leis­tung – spie­geln  unse­re gegen­wär­ti­ge Talk­show- und Social- Media-Rea­li­tät wider.  Auch der Büro-Tan­go im zwei­ten Akt (cho­reo­gra­fi­sche Ein­stu­die­rung: Mari­ta Erx­le­ben) ist eine gelun­ge­ne Par­odie auf unser moder­nes Arbeits­le­ben. Und selbst die hys­te­risch aus­agier­ten Trau­er­ri­tua­le – ein Stu­ben­ti­ger ist das ers­te Opfer der durch die Stadt tram­peln­den Dick­häu­ter – hal­ten der (media­len) Gegen­wart wir­kungs­voll den Spie­gel vor.

Und auf der impo­san­ten Büh­nen­kon­struk­ti­on von Regi­na Lorenz-Schweer – aus einer Viel­zahl von unter­schied­lich hohen, brei­ten und lan­gen Podes­ten, die über die gesam­te Büh­nen­brei­te und fast bis zur Decke rei­chen – tur­nen die neun Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­ler so lan­ge her­um, bis sie her­un­ter­kip­pen und in den anste­ckend (un-)heimlichen Nas­horn-Kos­mos geso­gen werden.

Kipppunkte zeigen und die mentale Widerstandskraft erhöhen

Der Ers­te ist der schwer­blü­ti­ge Herr Ochs, die Letz­te die quir­li­ge Büro­an­ge­stell­te Dai­sy (Fran­zis­ka Mel­zer), die kurz vor­her noch lie­bes­toll und ganz im Ban­ne Beh­rin­gers mit die­sem die Mensch­heit ret­ten woll­te. Doch die Kipp­punk­te, die in Ionescos Text so über­zeu­gend her­aus­ge­ar­bei­tet sind, gehen hier im hoch­ge­dreh­ten Geschwa­fel unter. Und es beschleicht einen die unan­ge­neh­me Ahnung, dass es hier und heu­te die­ser Kipp­punk­te gar nicht mehr bedarf. Gleich­zei­tig mag man auch das Schluss­bild – der letz­te Mensch Beh­rin­ger (Hen­ning Strüb­be) sitzt ganz oben links auf dem Podest mit einem Gewehr auf den vor­ge­streck­ten Hän­den – nicht wirk­lich "glau­ben". Denn wor­aus speist sich sei­ne Resi­li­enz, woher kommt die Vul­nerabi­li­tät all der anderen?

"Kön­nen wir zwei Tage nach Hanau über­haupt die­sen Abend zei­gen?" frag­te Inten­dan­tin Bet­ti­na Jahn­ke direkt in den Schluss­ap­plaus hin­ein. "Die­se Gesell­schaft kann kip­pen, auch Deutsch­land kann kip­pen", kon­sta­tier­te sie wei­ter. In die­sem Sin­ne wäre es sicher pro­duk­tiv, genau die­se Kipp­punk­te zu zei­gen und zu dis­ku­tie­ren, was jede*r Ein­zel­ne tun kann, um die men­ta­le Abwehr­kraft gegen die dro­hen­de Infek­ti­ons­ge­fahr zu erhöhen.

Astrid Priebs-Trö­ger

Die­ser Text erschien zuerst in Pots­da­mer Neu­es­ten Nach­rich­ten vom 24. Febru­ar 2020

24. Februar 2020 von Textur-Buero
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