Die Tugend der Anteilnahme

Die Polin Ani­ta Twa­rows­ka und der Bra­si­lia­ner Mur­il­lo Bas­so, die sich vor drei Jah­ren in der Tanz­fa­brik Ber­lin ken­nen- und schät­zen lern­ten, sind seit­dem das, was man land­läu­fig ein Traum-Tanz­paar nennt. Bei­de sind aus­ge­bil­de­te Schau­spie­ler mit  einem gemein­sa­men gro­ßen Inter­es­se an tän­ze­ri­scher Bewegung.

Mit einem pracht­vol­len Tanz-Auf­tritt beginnt auch ihr neu­es Stück "Let us stay", das der zwei­te Teil einer geplan­ten Tri­lo­gie über zwi­schen­mensch­li­che Bezie­hun­gen ist, und bei Made in Pots­dam zur Urauf­füh­rung kam. Ani­ta Twa­rows­ka im apri­cot far­bi­gen schul­ter­frei­en Pail­let­ten­kleid, Mur­il­lo Bas­so im ele­gan­ten schwar­zen Frack begrüß­ten als elo­quen­te Gast­ge­ber förm­lich von innen leuch­tend ihre Gäs­te im T‑Werk. Ganz zu Beginn ihrer Auf­füh­rung fokus­sie­ren sie sich jedoch in völ­li­ger Stil­le und Kon­zen­tra­ti­on auf­ein­an­der. Und jeder sieht, wie sehr die bei­den anein­an­der inter­es­siert und wort­los auf­ein­an­der ein­ge­spielt sind.

Trilogie über zwischenmenschliche Beziehungen

Zu Jackie DeS­han­nons Hit von 1965 "What the world needs now" schwe­ben sie im lang­sa­men Wal­zer­takt und qua­si im sieb­ten Him­mel übers Par­kett. "Was die Welt jetzt braucht/Ist Lie­be, süße Lie­be", singt Jackie DeS­han­non. Über den Tan­zen­den flim­mert die sil­ber­ne Dis­ko­ku­gel und das eige­ne Herz schwebt gleich auf leich­ten Schwin­gen mit den bei­den mit. Doch man ahnt,  als die Musik zu "stol­pern" anfängt, dass es so nicht para­die­sisch wei­ter­ge­hen wird.

Let us stay, Foto: Éli­se Schneider

Als der Song (Sound­de­sign: Nico­las Schul­ze) zu Ende ist, stei­gen Twa­rows­ka und Mur­il­lo in schlich­te­re All­tags­kla­mot­ten und kom­men damit buch­stäb­lich in die­sem an. Aus der kör­per­li­chen Nähe wird schnell räum­li­che Distanz. Bei­de neh­men, zwi­schen sich die lee­re Tanz­flä­che, ein­an­der gegen­über­sit­zend Platz. Im Rücken sitzt ihnen das/ihr Publi­kum. Und sie begin­nen zu dis­ku­tie­ren. Twa­rows­ka auf Pol­nisch, Bas­so auf Por­tu­gie­sisch. Es ist unmög­lich, dass sie ein­an­der so ver­ste­hen. Aus ihrer sich erhit­zen­den Gegen­re­de, wird rasch hand­fes­ter Streit, aus die­sem resul­tiert am Ende bei­na­he kör­per­li­che Gewalt.

Ohnmächtige Wut, seelischer Schmerz

Die­se Erre­gungs­spi­ra­le zu erle­ben, lässt – auch im Publi­kum – nie­man­den unbe­rührt. Ani­ta Twa­rows­ka agiert ihre ohn­mäch­ti­ge Wut, ihren see­li­schen Schmerz kör­per­lich aus und gerät immer tie­fer in kon­vul­si­ve Krämp­fe. Ihr gan­zer Kör­per zuckt aus­dau­ernd. Was für ein Kon­trast zu den vor­her ele­gant glei­ten­den Tanz­be­we­gun­gen – und: kei­ne Hil­fe in Sicht. Denn Mur­il­lo Bas­so sitzt reg­los dane­ben und auch sei­ne hilf­lo­sen Ver­su­che, sie an den Knö­cheln und Armen durch den Saal zu zie­hen, bewir­ken kei­ne Ver­än­de­rung ihrer hoch­gra­di­gen Erschütterung.

Kurz dar­auf wird die Situa­ti­on gespie­gelt. Jetzt liegt er am Boden und agiert die hef­ti­gen Streit­ener­gien eben­falls kör­per­lich aus. Doch: sei­ne Krämp­fe wer­den bald durch Berüh­run­gen von ihr ent­schärft. Aller­dings steht sie dafür über ihm und tritt ihm mit ihrem nack­ten Fuß auf die Brust, die Arme, die Hüf­te, schließ­lich ins Gesicht. Auch das  ist ein star­kes und sehr ambi­va­len­tes Bild über die (Ohn-)Macht in moder­nen Paar- und Geschlechterbeziehungen.

Let us stay, Foto: Éli­se Schneider

Twa­rows­ka und Bas­so erfor­schen in "Let us stay" die Beweg­grün­de, eine Bezie­hung auf­recht zu erhal­ten. Wie weit geht man, um zu blei­ben? Wie groß ist die eige­ne Bereit­schaft, den ande­ren anzu­neh­men, wie er ist? Immer wie­der schiebt sich in der hoch­emo­tio­na­len Per­for­mance einem selbst das wun­der­ba­re Anfangs­bild über die aktu­el­le Situa­ti­on. Wie viel Auf­merk­sam­keit, wie viel Güte, welch anste­cken­de Leich­tig­keit spie­gel­te die­ses groß­ar­tig tan­zen­de Paar? Reicht das für ein gan­zes Leben? Oder doch nur für die­sen einen schö­nen Augenblick?

(Ohn-)Macht in modernen Geschlechter- und Paarbeziehungen

Dafür befra­gen bezie­hungs­wei­se zitie­ren bei­de immer wie­der das berühm­te Gedicht "Gespräch mit dem Stein" der pol­ni­schen Lite­ra­tur-Nobel­preis­trä­ge­rin Wis­la­wa Szym­borska, das auch den Unter­ti­tel "Erfah­run­gen über die Ohn­macht in Bezie­hun­gen" tra­gen könn­te. In Rede und Gegen­re­de, Bit­ten und Ver­wei­gern schil­dert Szym­borska das gegen­sei­ti­ge Nicht­ver­ste­hen, das Ein­an­der Fremd­sein und das Neben­ein­an­der her leben. Und den viel­leicht wich­tigs­ten Grund dafür: "Du kommst nicht rein/sagt der Stein./Dir fehlt der Sinn der Anteilnahme."

In "Let us stay", in dem am Schluss die bei­den erschöpf­ten Part­ner im zuneh­men­den Zwie­licht noch immer tief ver­letzt umein­an­der krei­sen, wird aller­dings auch der ernüch­tern­de fina­le Satz aus Szym­bors­kas Gedicht zitiert: "Ich hab kei­ne Tür, sag­te der Stein."  Und doch moch­te man selbst die­ses Abso­lu­tum nicht so ste­hen las­sen, son­dern auch hier schob sich wie­der das posi­ti­ve Aus­gangs­bild über das inne­re Auge und Jackie DeS­han­nons Song, die dar­in um Lie­be, "von der es ein­fach zu wenig gibt" für ALLE bittet.

 Astrid Priebs-Tröger

 

 

18. Januar 2020 von Textur-Buero
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