Gegen das Vergessen
Ein hölzernes Schrankoberteil, ein alter Radioapparat, eine ramponierte Stehlampe und die kaputte Fensterscheibe – dies alles erinnerte zuvorderst an einen Dachboden oder einen Keller. Und weil sich Erinnerungen auch in solchen Räumen ablagern, sind diese geeignet, die Geschichte des jüdischen Mädchens Anne Frank zu erzählen.
Die Berliner freie Theatergruppe artisanen zeigt "Anne Frank" in Form von dokumentarisch-biografischem Theater mit Objekten und Puppen. Und obwohl man das Schicksal des Mädchens, das sich zusammen mit sieben anderen Erwachsenen über zwei Jahre lang in Amsterdam auf engstem Raum vor den Nazis versteckte, kennt, geht es einem auch in dieser Inszenierung unter die Haut. Ein erstes Mal, als acht kleine schwarz-weiß-Fotos der handelnden Personen an die Schranktür gepinnt werden.
Darüber hinaus liegt es natürlich an Anne Franks ungemein plastischen Tagebucheintragungen, die Inga Schmidt und Stefan Spitzer immer wieder auszugsweise vorlesen, aber vor allem daran, dass es gelingt, die beengte und beengende Atmosphäre im Versteck mithilfe einprägsamer Bilder intensiv nachempfinden zu lassen. Beispielsweise mittels eines kleinen Kastens, der den Grundriss des Verstecks abbildet und mit seinen kleinen Fächern an einen Setzkasten erinnert, wird die räumliche Enge nachvollziehbar. Besonders eindringlich, wenn sich alle acht Bewohner – hier dargestellt durch kleine Holzfiguren – in der Küche zum Essen versammeln. Da stehen sie im "Setzkasten" dicht an dicht gedrängt.
Gesellschaftliche Außen- , individuelle Innensicht
Zuvor lesen Schmidt und Spitzer an den zwei Mikrofonen neben dem "Dachboden" vor, was die sogenannten Judengesetze für diese bedeuteten. Reglementierungen und Verbote aller Art, die die Menschen jüdischen Glaubens schon damals dauerhaft aus dem Stadtbild entfernten. Neben dieser gesellschaftlichen Außensicht erarbeiten Inga Schmidt und Stefan Spitzer auch eine individuelle Innenperspektive, die konsequent aus der Sicht Annes gestaltet ist. Ihre Schwierigkeiten, sich zwischen den gestressten Erwachsenen als Pubertierende zu behaupten, werden genauso thematisiert wie ihr gestörtes Verhältnis zur eigenen Mutter, ihre jugendlichen Selbstzweifel und ihre erste Liebe.
Kernstück: Vater-Tochter-Beziehung
Kernstück der einstündigen, atmosphärisch ungemein dichten Inszenierung ist das Verhältnis Annes zu ihrem Vater Otto Frank. So treten nur diese beiden – als bewegliche lebensechte Holzfiguren gestaltet – im geöffneten Schrank in den Dialog. Und auch hier gibt es, wie im gesamten Stück, jede Menge Brüche und Gefühlsschwankungen: Annes überschwängliche Liebe zum Vater, seine Eifersucht, als sie sich in Peter verliebt und er ihr die Knutscherei mit diesem lautstark verbietet. Besonders anrührend auch die Szene, als die 14-Jährige nochmal zum Kind wird und träumerisch auf der Wäscheleine, die zwischen Schrank und Stehlampe hängt, erst wie über einem Abgrund balanciert und dann gedankenverloren schaukelt.
Diese kurze Episode charakterisiert einprägsam ihre Situation, die sich zusehends verschlechtert, je länger der Krieg dauert. Lebensmittelknappheit und Bombenangriffe werden alltäglich. Und als Anne einen Tag und eine Nacht mit zahlreichen Bombenangriffen im Tagebuch schildert – die in der Inszenierung auch mit Sirenenalarm untermalt sind – bildet (nicht nur) dies eine Brücke in die Gegenwart. In der beispielsweise in Syrien oder in Kurdistan Kinder und Jugendliche einem ähnlichen Schicksal ausgeliefert sind.
Die Inszenierung setzt auf das Einfühlungs- vermögen Jugendlicher
Besonders stark an der Inszenierung der artisanen ist, dass sie diese Parallelen mit einer großen Sensibilität für Kinder ab 12 Jahren herstellt. Nicht, indem sie schreckliche Bilder zeigt, sondern auf das Einfühlungsvermögen der jugendlichen Zuschauer setzt. Dies geschieht weniger über Worte als auch über die eindringliche Tonspur, in der Radiostimmen, Geschirrgeklapper oder eben Kriegsgeräusche und Hundegebell miteinander abwechseln. Und nicht zuletzt über die jugendliche Leichtigkeit Annes, deren größter Wunsch es war, als Schriftstellerin berühmt zu werden und die sich schon vor über 70 Jahren wünschte, dass Frauen endlich anerkannt werden.
Astrid Priebs-Tröger
Dieser Text erschien zuerst in den Potsdamer Neuesten Nachrichten vom 13 .Januar 2020