Ach, Menschheit!

Was für ein Text – die­se Novel­le "Bart­le­by, der Schrei­ber", die Her­mann Mel­ville 1853 schrieb. In der das Schick­sal eines son­der­ba­ren Kopis­ten von einem alten Kanz­lei­be­sit­zer erzählt wird. Und die seit­dem unzäh­li­ge Kul­tur­kri­ti­ker und Phi­lo­so­phen dazu bewegt hat, sich mit der sanf­tes­ten aller Ver­wei­ge­rungs- und Pro­test­for­meln "I would pre­fer not to" – "Ich möch­te lie­ber nicht" aus­ein­an­der zu setzen.

Die Wan­der­thea­ter­grup­pe Ton und Kir­schen hat nach eige­nem Bekun­den zwei Jahr­zehn­te gebraucht, um sich dem facet­ten­rei­chen Stoff zu nähern. Nicht nur, weil die­ser so unge­mein viel­schich­tig ist, son­dern weil einem nicht jeden Tag ein Schau­spie­ler über den Weg läuft, der den son­der­ba­ren Schrei­ber ver­kör­pern kann. Der Ita­lie­ner Ste­fa­no Amo­ri kann und es ist ein Glück für Ton und Kir­schen, die­sen jun­gen Mann im Som­mer 2016 ent­deckt zu haben. Mit sei­nen dunk­len Augen, dem locki­gem Haar, dem sanf­tem Wesen und der schlan­ken Gestalt nimmt er einen sofort für sich ein.

Szene aus Bartleby von Ton und Kirschen

Foto: Jean-Pierre Estournet

Und: er ist unge­heu­er prä­sent, selbst, als er vom Kanz­lei­chef (Rob Wyn Jones) hin­ter einem Para­vent ver­bor­gen wird, um nicht von sei­nen quir­li­gen Kol­le­gen Tur­key (David John­s­ton) und Tip­per (Nel­son Leon) in sei­ner ver­ant­wor­tungs­vol­len Arbeit gestört zu wer­den. Denn Bart­le­by kopiert wert­vol­le Schrift­stü­cke. Er tut es ohne Pau­se, höchst­wahr­schein­lich feh­ler­frei und gera­de­zu emo­ti­ons­los. Seit sei­nem Erschei­nen hört man in der Insze­nie­rung nur noch gespens­tisch gleich­mä­ßig eine Feder übers Papier kratzen.

Die drei ande­ren – der Lauf­bur­sche Gin­ger Nut (Vic­tor Cue­vas) zählt noch dazu – sind hin­ge­gen Men­schen wie du und ich. Sie haben ihre Vor­zü­ge und ihre Lau­nen, die der Kanz­lei­chef groß­zü­gig tole­riert. Schö­ne, "alte" Arbeits­welt – inklu­si­ve regel­mä­ßi­ger Pau­sen – könn­te man mei­nen. Doch Ton und Kir­schen – unter der künst­le­ri­schen Lei­tung von Mar­ga­re­te Biereye und David John­s­ton –  zeich­nen kein vor­der­grün­dig idyl­li­sches, son­dern ein mit star­ken Brü­chen ver­se­he­nes Bild vom (kapi­ta­lis­ti­schen) Arbeits- und Zusammenleben.

David John­s­ton darf dabei sei­nem clow­nes­ken Natu­rell so rich­tig Zucker geben und Nel­son Leon sich als Lebens­künst­ler durch sel­bi­ges derb und lust­voll wurs­teln. In die­ser Gegen­sätz­lich­keit kommt Bart­le­bys huma­no­ide Robo­ter­na­tur – freund­lich distan­ziert – erst so rich­tig zum Tra­gen und der moder­ne Büro­all­tag, luft­ab­schnü­rend, bedroh­lich nah. Alles könn­te so wei­ter­ge­hen, wenn Bart­le­by sei­ne Tätig­keit nicht von einem auf den ande­ren Moment ein­stel­len würde.

Szene aus Bartleby von Ton und Kirschen

Foto: Jean-Pierre Estournet

Schwä­che­an­fall, Burn­out, Null­bock? Nichts Genau­es weiß man nicht. Klar wird nur, der Jun­ge tut nur noch, was er will. Bart­le­by gibt nahe­zu alles auf – am Ende sogar das Atmen. Wider­stands­frei­er und kon­se­quen­ter war Ver­wei­ge­rung nie. Wahn­sinn, wie sich Ste­fa­no Amo­ri beim Büro­um­zug wie eine leb­lo­se Glie­der­pup­pe trans­por­tie­ren lässt oder wie er im Gefäng­nis zusam­men­bricht. Amo­ri, der 1975 gebo­ren wur­de, hat die Pari­ser Schau­spiel­schu­le "Mar­cel Mar­ceau" absol­viert und Boden­akro­ba­tik auf einer Zir­kus­schu­le gelernt.

Doch ganz beson­ders ein Bild erzeugt – neben Wut – auch tie­fe Trau­rig­keit: Bart­le­by ist allein im nächt­li­chen Büro. Er steht am Fens­ter und ver­folgt, als sich die­ses durch den Raum zu bewe­gen beginnt, ein­zig und allein sein Spie­gel­bild. Was für ein Nar­ziss­mus, wel­che Ein­sam­keit! Ton und Kir­schen ori­en­tie­ren sich an der Bart­le­by-Inter­pre­ta­ti­on des fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phen Gil­les Deleu­ze, der "Bart­le­by nicht als den Kran­ken, son­dern als Arzt eines kran­ken Ame­ri­ka sah." Wie "wahr".

Und gleich­zei­tig schi­cken sie ihm und der gan­zen Mensch­heit, ganz am Schluss – und im Gegen­satz zum "Ja" im Ori­gi­nal­text – ein bedau­ern­des "Ach" hin­ter­her. Wie berüh­rend – und ver­stö­rend zugleich!

Astrid Priebs-Trö­ger

Die­ser Text erschien zuerst in den Pots­da­mer Neu­es­ten Nach­rich­ten (PNN) vom 26.11.16

26. November 2016 von admin
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