Die Welt steht Kopf

Acht Auf­füh­run­gen in sechs Stun­den – auch Uni­dram schien am Frei­tag­abend in die Vor-Coro­na-Rea­li­tät zurück­ge­kehrt zu sein. Wie über­haupt der gan­ze Kul­tur­stand­ort Schiff­bau­er­gas­se, an dem an die­sem küh­len Spät­som­mer­abend an allen Ecken und Enden über­wie­gend jun­ge Leu­te unter­wegs und süch­tig nach Begeg­nung und Unter­hal­tung waren. Was für ein Tru­bel. Und das deut­li­che Gefühl von "jetzt erst recht!"

Und nicht nur des­we­gen mutet es selt­sam an, dass die augen­schein­lich jüngs­te Uni­dram-Teil­neh­me­rin, die Per­for­me­rin Li Kem­me, in "Echo of an End"  – Was wäre, wenn du ein­fach den Ste­cker ziehst? – fragt.

Li Kem­me, "Echo of an End"

Denn Kem­me in Jeans­shorts und dun­kel­blau­er Arbeits­wes­te erträgt sie nicht mehr: die "Stim­men in ihrem Kopf, den Lärm der Maschi­nen und der Ver­gan­gen­heit oder die stän­dig anwach­sen­de Beschleu­ni­gung" der über­aus her­aus­for­dern­den, oft (selbst-)zerstörerischen Gegenwart.

Mit­hil­fe von zehn selbst­ge­bau­ten mecha­ni­schen Appa­ra­tu­ren – setzt sie die­se nach­ein­an­der, sich bald über­lap­pend und ein­an­der durch­drin­gend in einem viel­stim­mi­gen Chor in Gang, des­sen ohren­fäl­li­ge Kako­pho­nie neben dem mecha­ni­schen Gewu­sel klei­ner Appa­ra­te, nach nur einem – näm­lich nach Stil­le – verlangt.

Wäh­rend für die jun­ge Deut­sche die­se im eige­nen Kopf und auch in der (kapi­ta­lis­ti­schen) Welt 2017 also ein erstre­bens­wer­tes Ziel wären, hadern die vier Voll­blut­mu­si­ker und Sound­ma­schi­nen­bast­ler von der nie­der­län­di­schen Grup­pe BOT 2020 genau mit die­ser – im durch die Pan­de­mie erzwun­ge­nen Stillstand.

BOT, "Crash", Foto: René den Engelsman

Denn ihnen wird nach der ers­ten, gewohnt laut­star­ken, optisch und akus­tisch über­bor­den­den Vier­tel­stun­de von "Crash" förm­lich der Ste­cker gezo­gen. Denn als bei ihnen der Bär so rich­tig steppt, respek­ti­ve Motor­rad fährt, knallt es laut und Rauch steigt auf. Da hilft nur eine Voll­brem­sung. Und ein zelt­ähn­li­cher, wei­ßer Plas­tik­wür­fel, in dem die vier von nun an – zumin­dest digi­tal – eng bei­ein­an­der hocken.

Mit einer ähn­lich exis­ten­zi­el­len Aus­nah­me­si­tua­ti­on haben auch die bei­den Artis­ten der spa­ni­schen Com­pany­ia PSiRC zu tun. In ihrer Insze­nie­rung "Mein Name ist Hor" – inspi­riert von Micha­el Endes "Spie­gel im Spie­gel" – gera­ten Wan­ja Kah­lert und Adrià Mon­ta­ña  zusam­men mit  kopf­lo­sen Holz-Mario­net­ten und männ­li­chen Pup­pen­köp­fen in ein Höhlen-Labyrinth.

Und auch hier wer­den ihre bis­he­ri­gen Wer­te und die freund­schaft­li­che Bezie­hung gehö­rig auf die Pro­be gestellt, da rol­len Köp­fe, hän­gen die Per­for­mer wild schwin­gend kopf­über von der Decke, tas­ten sich durs­tig durch Zwie­licht und Ungewissheit.

Com­pany­ia PSiRC, "Mein Name ist Hor", Foto: Ber­nat Ripoll

Ja, die Welt steht Kopf – auch, wenn es da drau­ßen immer noch/wieder genü­gend Men­schen gibt, die ger­ne zur  soge­nann­ten "Nor­ma­li­tät" des Vor­kri­sen­zu­stan­des zurück­keh­ren würden.

Geert Jon­kers, Tomas Poste­ma, Job van Gor­kum und Doan Hen­driks von BOT besan­nen sich in "Crash" auf eine neue Ein­fach­heit und fan­den sich wie­der beim a‑ca­pel­la-Gesang, um ganz am Ende  zwar lei­ser doch eigen­sin­nig in ihre Blech­blas­in­stru­men­te zu blasen.

Und Li Kem­me? Sie arbei­tet seit 2020 schon an Fol­ge­per­for­man­ces, die Titel wie "HEART – Ein Aus­schau­hal­ten nach der Anmut im Zer­fall" oder "Stress! – Eine Per­for­mance von Lebens- und Welt­ord­nun­gen auch in Momen­ten gro­ßer Insta­bi­li­tät" tra­gen. Mit die­ser und ande­ren jun­gen Frau­en* wird hof­fent­lich nicht nur bei Uni­dram also noch zu rech­nen sein.

Astrid Priebs-Trö­ger

04. September 2021 von Textur-Buero
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