Wortlose Dramen

Jede:r kennt das fas­zi­nie­rend-irri­tie­ren­de Gefühl, das man hat, wenn man nachts in hell erleuch­te­te frem­de Woh­nun­gen schaut. Und dabei für einen Moment lang in das (Familien-)Leben Unbe­kann­ter eintaucht.

Genau dies konn­te man am vor­letz­ten Uni­dram-Abend in der "Medea"-Inszenierung des deutsch-öster­rei­chi­schen Künst­ler­kol­lek­tivs Hal­li­ma­sch Kom­plex tun: Durch Gaze­wän­de dabei zuse­hen, wie eine nach außen schein­bar intak­te Fami­lie Stück für Stück bru­tal auseinanderbricht.

Hal­li­ma­sch Kom­plex, "Medea", Foto: Nad­ja Häupl

Hier wur­de der anti­ke Medea-Mythos, in der Bear­bei­tung Hans Hen­ny Jahnns, in die 60er Jah­re des 20. Jahr­hun­derts trans­for­miert: Ehe­frau Medea sieht aus wie Jackie Ken­ne­dy; Jasons neue Gelieb­te wie Mari­lyn Mon­roe. Und die alle­samt wort­lo­sen (Liebes-)Dramen fin­den hier am tür­kis­blau­en Ess­tisch und unterm blank­ge­putz­ten Wohn­zim­mer-Gum­mi­baum statt.

Par­al­lel dazu wer­den die bei­den Tee­nie-Kids abwech­selnd mit Coca-Cola und Lie­bes­ent­zug belohnt oder bestraft und von den Eltern wech­sel­sei­tig für eige­ne Inter­es­sen instru­men­ta­li­siert. Zur "Ver­söh­nung" aller Fami­li­en­mit­glie­der wer­den gemein­sa­mes Kon­fekt-Essen und wie­der auf Linie brin­gen­de For­ma­ti­ons­tän­ze zelebriert.

Und die­se, wie aus einem der bon­bon­far­bi­gen Wer­be­fil­me jener Zeit ent­sprun­ge­nen Bil­der, zei­gen unter ihren (fett-)abweisenden Tef­lon-Ober­flä­chen prä­zi­se das zer­stö­re­ri­sche Wesen der herr­schen­den Geschlech­ter­ste­reo­ty­pe, von Lie­bes­ent­zug und gegen­sei­ti­ger Mani­pu­la­ti­on auf.

Medea-Jackie in ihrem rosa Jacken­kleid inklu­si­ve Gla­cé­hand­schu­hen ist dabei Opfer und Täte­rin zugleich – sie ist dazu ver­dammt, ent­we­der zu staub­saugen oder zu mor­den, um nicht voll­ends an ihren eige­nen Gefüh­len zu ersticken.

Gran­di­os und eine tol­le Ent­de­ckung bei Uni­dram, die­ses 2020 gegrün­de­te Hal­li­ma­sch-Künst­ler­kol­lek­tiv, in dem elf Men­schen, die Ende der 1980er, Anfang der neun­zi­ger Jah­re gebo­ren wur­den, ver­su­chen, die Gren­zen des klas­si­schen Schau­spiel- und Sprech­thea­ters aufzubrechen.

Ein wei­te­res, eben­falls wort­lo­ses Dra­ma ereig­ne­te sich – auch wenn es gut als clow­nes­ke Num­mer ver­klei­det war – in Cie Sacékri­pas "Vu", was aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt "gese­hen" bedeu­tet. Ein Mann kommt nach­hau­se und berei­tet sich in genau ein­stu­dier­ten Fei­er­abend-Ritu­al einen Tee zu.

Cie Sacékri­pa, "Vu", Foto: Camil­le Chalain

Aus der Schub­la­de sei­nes nied­ri­gen Tisches zau­bert er dazu jede Men­ge "Mate­ri­al", um die end­lo­se Zeit zwi­schen Tee­zu­be­rei­ten und –trin­ken mit aller­lei skur­ri­len Kunst­stück­chen aus­zu­fül­len. Schließ­lich, als ihm das in den Tee zu schnip­pen­de Zucker­stück her­un­ter­fällt, bit­tet er eine Frau aus dem Publi­kum um Unterstützung.

Und jetzt pas­siert bei­na­he genau das Glei­che – aller­dings unter dem Deck­män­tel­chen des Komi­schen – was in "Medea" geschah. Obwohl sich die Frau, unter Beach­tung aller sei­ner Marot­ten sehr bemüht, sei­ne Wün­sche punkt­ge­nau zu erfül­len, kann sie es ihm (fast) nie recht machen.

Und eine Spi­ra­le aus Beloh­nung und Lie­bes­ent­zug setzt sich auch hier in Gang. An deren Ende der ein­sa­me Eigen­bröt­ler (Eti­en­ne Man­ceau) nur sehr knapp einem selbst­ver­let­zen­dem Gemet­zel entgeht.

Sum­ma Sum­ma­rum ein sehr inten­si­ver, vor­letz­ter Uni­dram-Abend, der sich auf die Schlacht­fel­der der mensch­li­chen Ein- und Zwei­sam­keit begab und mit sehr unter­schied­li­chen künst­le­ri­schen Mit­teln psy­cho­so­zia­le Abgrün­de offenlegte.

Astrid Priebs-Trö­ger

05. September 2021 von Textur-Buero
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