Belohnung und Strafe
2021 war ein Unidram-Jahrgang, in dem viel gearbeitet wurde. Ganz am Anfang stand "Work" von Claudio Stellato und am Ende "This work about the orange" von Cie les 3 plum. Und die an allen Tagen in Dauerschleife laufende Filminstallation "Kunstpause" von KOMBINAT beschäftigte sich mit der Abwesenheit derselben.
"This work about the orange" hatte starke Anklänge an das interaktive Hörstück "Rausch und Zorn", des deutschen Künstlerkollektivs LIGNA, mit dem man sich bei Unidram 2019 selbst zu den Wurzeln des italienischen Faschismus begab.
Die "Arbeit über die Orangen" hatte dagegen eine viel simplere Versuchsanordnung. Im Gewand einer TV-Spiel- und Gewinnshow mit (absurden) tänzerischen Einlagen sowie Interventionsmöglichkeiten für das Publikum wurde dieses aktiv einbezogen in das Bühnengeschehen.
Der Gebrauch "politisch korrekter Sprache" und einer Unmenge an "Hygieneregeln" suggerierte nicht nur am Beginn, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht, sprich: niemand gedemütigt oder genötigt wird zu etwas, was er/sie nicht tun will. Mit Geldsummen zwischen 5 und zwanzig Euro wurden Belohnungen verteilt und – wie bei der Reinigungstruppe – auch wieder entzogen.
Doch als das Ganze Fahrt aufnahm und junge Menschen aus dem Publikum bereit waren, sich auf der Bühne (fast) vollständig zu entkleiden, mit Milch übergießen und dabei fotografieren zu lassen, hörte der "Spaß" eigentlich auf. Eigentlich.
"This work about the orange" spielte sehr clever mit menschlichen Grundbedürfnissen wie der Sehnsucht nach Anerkennung bzw. Zugehörigkeit, beförderte Gier und Anpassung und setzte beim gesamten Versuchsaufbau subtil auf "Zuckerbrot und Peitsche" und die psychologischen Mechanismen von Gruppendynamik.
Neil Postman hat bereits 1985 in "Wir amüsieren uns zu Tode" analysiert, wie die kapitalistische Unterhaltungsindustrie unsere Urteilsbildung beeinflusst bzw. zerstört. "This work about the orange" lieferte einmal mehr den Beweis für seine Thesen, zeigte aber auch, dass immer – vor allem im Chaos – die Möglichkeit zur aktiven Veränderung der Spielregeln des jeweiligen Systems besteht.
Vor dieser eindringlichen Schlusssequenz war auch das Sonntagabendprogramm zum letzten Mal prall gefüllt. Zwei sehr unterschiedliche Produktionen aus Ungarn und Spanien luden ins Waschhaus und in die fabrik ein.
Der ungarische Tänzer Ferenc Fehér erinnerte mit seiner expressiven, sowohl kraftvollen als auch verletzlichen, Aktdarbietung an den 1918 an der Spanischen Grippe verstorbenen österreichischen Maler Egon Schiele, der als junger Mann stark von den Stahlgewittern des 1. Weltkrieges beeinflusst wurde.
Andrea Cruz und Naroa Galdós aus Spanien entführten die Besucher:innen in der fabrik hingegen in die nächtlichen (Alb-) Träume zweier Schwestern. Während die Ältere darin mit einem mächtigen Hirschgeweih auf dem Kopf kraftvoll wie eine Jagd-Göttin tanzte, fühlte sich die Jüngere erotisch zu einem männlichen Jungtier hingezogen.
Wen oder was die Schwestern in "Las Hermanas verán" sehen, wird sich in diesem sehr hypnotisch wirkenden, auf starke visuelle Effekte setzenden Tanztheater für jede:n wohl ein wenig anders angefühlt/dargestellt haben. In Erinnerung bleiben jedenfalls dunkle und prägnante Bilder der Ur-Verbindung zwischen Mensch und Tier.
Mit rund 2.000 Besucher:innen an sechs Festivaltagen konnte sich Unidram selbst in Pandemiezeiten – und nach einem Jahr Unterbrechung – überzeugend kraftvoll behaupten. Wunderbar, dass es möglich war, wieder spannendes, kontroverses, experimentelles europäisches Theater in großer Formenvielfalt in Potsdam zu erleben und dass sich die Festivalmacher:innen auch unter den gegenwärtig herrschenden Hygieneregeln entschlossen haben, weiterhin allen Interessierten den Zutritt dazu zu ermöglichen.
Astrid Priebs-Tröger