Am Puls der Gegenwart
Anmutig und kraftvoll. So ist die Trampolin-Performance des kanadischen Tänzers und Akrobaten Yoann Bourgois, die am Mittwochabend zur Eröffnung der Potsdamer Tanztage open Air gezeigt wurde.
Auf einem Holzpodest mit zwei Treppen und einem unsichtbaren Trampolin dazwischen kreierte er zur minimalistischen, wunderbar pulsierenden Pianomusik von Philip Glass eine bildstarke Allegorie auf das menschliche Leben: Aufsteigen, Fallen, Weitergehen. Wunderbar leicht und elegant, im weiteren Verlauf immer kräftezehrender, schließlich erfahrener, doch auch erschöpft(er).
Nur acht Minuten kurz, doch eindringlich, poetisch, berührend. Und nah am Puls dieser, unserer Gegenwart. Und eine nachklingende Einstimmung auf diese "besonderen Tanztage", wie Leiter Sven Till zur Begrüßung in der fabrik sagte. "Besonders" im Angesicht von "Corona" und vor allem, weil das fabrik-Team in nur zwei Monaten ein neues, den Pandemie-Bedingungen angepasstes Programm mit zahlreicher internationaler Beteiligung auf die Beine stellen konnte.
Und schon Yoann Bourgois, der insgesamt noch acht Mal – umsonst und draußen in der Schiffbauergasse – auftreten wird, war ein sommerleicht-philosophischer Glücksgriff. Und die erste Deutschlandpremiere des Festivals, "La Desnudez" (Die Nacktheit) von Daniel Abreu aus Madrid, die in der fabrik wegen der Abstandsregeln gerade mal 50 Zuschauer sehen durften, erwies sich ebenfalls als etwas ganz Wesentliches.
Denn die beiden sehr charismatischen Tänzer Dácil González und Daniel Abreu, die gleich groß und körperlich einander ebenbürtig waren, tanzten in einem Dutzend Sequenzen eine stark pulsierende Mann-Frau-Beziehung. In Licht und Schatten, mit Gleichheit und Unterlegenheit, in Synchronizität und Vereinzelung. In der Umarmung, im Kampf und der Entfernung.
Das archaische Anfangsbild zeigte einen Mann mit einer Vielzahl von Holzlatten, der stark im Außen beschäftigt ist. Während sich die andere Person unter dem schwarzen Bodentuch, sehr organisch entfaltet und groß wie eine Wanderdüne wird. Und obwohl sie immer noch als Frau unsichtbar ist, mit ihrer enormen Energie sofort den ganzen Raum einnimmt.
Zum Requiem "Pie Jesu" von Gabriel Fauré verkörpert Dácil González mit ihrem langem Rock und Zopf dann den ganzen Schmerz, die große Kraft und die berückende Anmut der meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen. Und in den folgenden Umarmungen beider – schwindelerregend zwischen Kampf und Hingabe – wird sichtbar, wie falsch die noch immer propagierte weibliche Unterordnung beziehungsweise Zurücksetzung des angeblich schwachen Geschlechts ist.
Zu den beiden Tänzern gesellte sich der Tubaspieler Hugo Portas, der u. a. mit Stücken von Monteverdi und Purcell kongenial den elegischen Grundton der Beziehung malte, die schließlich unter flackerndem Diskolicht und dem Hit "Hotter than hell" von Dua Lipa zerstob. Oder war es doch umgekehrt? Denn auch mit dieser Uneindeutigkeit des Beginnens beziehungsweise Endens spielte "La Desnudez".
Astrid Priebs-Tröger
Dieser Text erschien zuerst in den Potsdamer Neuesten Nachrichten vom 6. August 2020