Geschichte(n) neu schreiben
Die herrschenden Ideen waren stets nur die Ideen der Herrschenden (Klassen), schreibt Karl Marx 1848. Wie sehr dies bis heute zutrifft, kann man sehr gut in den gesellschaftlichen als auch in privaten Verhältnissen zwischen Männern und Frauen sehen.
Die Potsdamer Theatergruppe "Lyriden* 18" hat jetzt eine Produktion erarbeitet, die die Geschichte der Nibelungen aus der Sicht einer Betroffenen, nämlich von Brunhild, erzählt und dabei die damals wie heute waltenden Ge-schlechterverhältnisse seziert.
Und aus der Perspektive dieser Frau ist dies keine germanische Heldensaga, sondern eine brutale Unterwerfungsgeschichte. Aber der Reihe nach. In Uta Hertnecks Inszenierung, die Schauspiel- und Musiktheater fluid verbindet, stehen sich im Prolog zwei schwarz gekleidete junge Frauen in einer weißen Arena gegenüber.
Zur Live-Musik von Streichern üben sie mit präzisen Bewegungen eine asiatische Kampfkunst, in der beide wortlos sehr präsent sind; frau/man könnte ihnen stundenlang dabei zusehen und sich an ihrer Kraft, Geschmeidigkeit und Energie berauschen.
Doch dann erscheint ein schlaksiger Typ auf der Bildfläche, der einfach durch diese starke Szene latscht und ungefragt das Wort ergreift. Es ist Gunther, der der trunkene Herr im Burgunder-Hause ist. Und der in dieser Rolle die Deutungshoheit über das, was damals passierte, hat.
In Uta Hertnecks "Brunhild"-Fassung geht das so weit, dass er wie ein Talkmaster zwar Gegenpositionen erstmal spielerisch zulässt, um dann alles mit seiner "Wahrheit" zu zukleistern, die da lautet: "Das Geschlecht der Nibelungen ist wegen eines dummen Zicken-Krieges auf den Treppen des Wormser Domes zugrunde gegangen."
Uta Hertneck, die gemeinsam mit ihrem Mann Marcus Hertneck diese vielschichtige Theaterfassung erarbeitete, wechselt darin von der althergebrachten männlichen in die weibliche Perspektive. Sie untersucht, warum und wie es zu diesem "Zickenkrieg" überhaupt kommen konnte und wie sich Frauen immer wieder zu Erfüllungsgehilfinnen von männlicher Machtdurchsetzung gebrauchen lassen. Und sie wird dabei sehr schnell fündig.
Denn nach Brunhilds überwältigender Hochzeitsnacht mit König Gunther beziehungsweise Siegfried, die sie kurz darauf völlig aus ihrem Gedächtnis gelöscht hat, attestiert eine Psychologin, die zudem aktuelle feministische Diskurse einbringt, der einstmals stolzen und kraftstrotzenden Walküre eine posttraumatische Belastungsstörung.
Die, wie man in der atmosphärisch dichten, zwischen unterschiedlichen Zeit‑, Stil- und Erzählebenen mühelos hin- und herwechselnden Inszenierung gut beobachten kann, verstärkt wird durch die kulturellen Anpassungsleistungen, die Brunhild erbringen soll, um von jetzt an nicht mehr eigenständig, sondern als Frau an der Seite eines Mannes zu leben.
Eingezwängt in dieses enge Korsett versagt ihr immer öfter die eigene Stimme und damit versiegt auch ihre altisländische Muttersprache, die sie vorher so klangvoll sprach. Diese Zurichtung der neuen Königin scheint Wirkung zu zeigen, auch wenn sich Brunhild im Gegensatz zu den anderen Frauen weder putzt noch anbietet. Sie bleibt am burgundischen Hof eine Fremde, zerrieben zwischen Aufbegehren und Depression.
Aber, das begreift die junge Psychologin schon in ihrer ersten Begegnung mit Brunhild und die Zuschauer*innen mit ihr, sie ist kein Opfer. Denn Brunhild bleibt – über zehn Jahre lang – zwar in gestörter, jedoch in Verbindung mit ihrer ursprünglichen Kraft.
Und sie schafft es in Hertnecks zugleich verstörender wie auch Mut machender Inszenierung, als sie den diabolischen (Handels-)Pakt von Gunther, Siegfried und Hagen durchschaut und sich von ihrer Selbsttäuschung, Siegfried liebe sie, befreit, sich wieder vollständig mit sich selbst und darüber hinaus auch mit anderen zu verbünden. Das ist stark.
Doch während wir viel über die (inneren) Werte von Bruderschaft wissen, ist Schwesternschaft noch immer ein ziemlich unerforschtes/uto-pisches Terrain, bei dem mit "Keine Gewalt!"-Rufen und therapeutischen Kreisversammlungen sicher noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.
"Das Patriarchat (wie auch der Kapitalismus und die Religion – Anm. APT) und die Vorherrschaft der Weißen sind nur Geschichten", zitiert die Inszenierung die britische feministische Autorin Laurie Penny, "und ich glaube – ich hoffe –" so Penny weiter, "dass sie nun eine nach der anderen umgeschrieben werden."
In "Brunhild" ist dieser Versuch der Überschreibung – im Sinne eines Perspektivwechsels – beeindruckend gelungen und für mich ist diese (mythische) Frauenfigur erst jetzt eine aus Fleisch und Blut, die aufgrund ihrer unbeugsamen Kämpferinnennatur Vorbildwirkung und Identifikationspotenzial auch für uns Heutige hat. Währenddessen sie in den überlieferten männlichen Erzählungen den Freitod wählte und damit einfach aus dem berühmten Sagenkreis und damit aus unserem Bewusstsein verschwand.
Und weil die Frauenfrage eben kein Nebenwiderspruch des Kapitalismus ist, ist es in der Gegenwart so wichtig, die wirklichen Machtfragen nicht nur zu stellen, sondern endlich zu entscheiden/durchzusetzen. Auch in Anbetracht dessen, dass das Gebot des unbegrenzten Wachstums schon lange an seine natürlichen und sozialen Grenzen gekommen ist.
Astrid Priebs-Tröger