Alles kippt, alles rutscht …
Sie durften nicht fehlen beim 30. Jubiläum von Unidram: die russischen Theateringenieure von AKHE, die zu den wenigen Konstanten des Potsdamer Festivals zählen und mit dem letzten Teil ihrer Trilogie nach "Demokratie" und "Diktatur" jetzt mit "Utopia" anreisten.
Doch bevor Maxim Isaev, Pavel Semchenko und Nik Khamov wie schon so oft bildgewaltig und rauschhaft zum Zuge kamen, war die tschechische Tänzerin Markéta Jandová mit ihrer verstörenden Performance "F*cking beautiful spring" in der fabrik zu erleben.
Ihr binaurales Tanztheater, bei dem man die meiste Zeit unter Kopfhörern verbrachte, führte direkt in die innere Gefühlswelt einer jungen Frau, die mit Erschrecken feststellt, dass sie schwanger ist. Ihren Gefühlsturm sowohl im Badezimmer als auch in der U‑Bahn und später in der freien Natur konnte man besonders intensiv durch die Geräuschkulisse mitverfolgen. Und ihr starkes Körperempfinden in ihren anhaltenden Drehungen in der kreisrunden fabrik-Arena hautnah miterleben.
Die drei AKHE-Protagonisten hingegen lagen im T‑Werk erstmal völlig bewegungslos im Halbdunkel in einem Raum, der sich wie der Bauch eines Schiffes anfühlte und anhörte. Zwei erheben sich dann mühelos von ihren Ruheplätzen, während der dritte auf dem alten Holztisch wie festgeklebt scheint und zudem mit Pflastersteinen – wie zum suizidalen Ertrinken – beschwert ist.
Das Holzpodest, auf dem dieser Tisch steht, wird in "Utopia" immer wieder der Ausgangspunkt für neue Ideen – vom allseitig entwickelten Menschen, bis hin zur Globalisierung und zum Transhumanismus. Dabei gerät das Podest schnell in Schieflage beziehungsweise in den aufrechten Stand.
Alles kippt, alles rutscht daran herunter und nach kurzer Zeit – oder dem verzweifelten Versuch, ein großflächiges Porträt darauf zu malen – wird dieses respektive die jeweilige "neue" Idee zur Menschen- und Weltverbesserung mit viel Wasser weggespült, mit Rauchschwaden vernebelt oder sogar weggebrannt. Die AKHE-Performer greifen tief in ihre brachiale Werkzeugkiste und scheuen dabei keine Mühe und kein persönliches Risiko.
Sie werden nacheinander selbst an der schiefen Ebene festgebunden oder sogar fest getackert wie der mit weißem Kaftan und rundem schwarzen Hut (als Jude?) kostümierte Mann, der dann von den beiden anderen mit allerlei Flitter und Regenbogenfarben zum Symbol von Interkulturalität und Diversität herausgeputzt wird. Nachdem er sich befreit und oben auf die aufrecht stehende Wand gerettet hat, erscheint New Age als letzte Idee, bis er schließlich final kopfüber baumelt.
Wieviel unsicherer aber gleichzeitig auch flexibler ist da das aus Holz und Seilen flugs gezimmerte Flugobjekt – das sowohl Schaukel als auch Brücke sein kann – und mit dem Nik Khamov nur noch mit Unterwäsche bekleidet, ganz zuletzt durchs chaotische Dunkel im T‑Werk reist. Kein Ort. Nirgends. Und (doch) "bolshoye spasibo" aus dem jubelnden Publikum.
Viel stiller und intimer ging es bei der dritten Vorstellung an diesem Abend im Kesselhaus zu. "Die Melancholie des Touristen" von der mexikanisch-spanischen Gruppe Oligor y Microscopia, die in ihrem winzigen hölzernen Theaterkino mit viel Wehmut und Genuss das Phänomen des (touristischen) Reisens unter die Lupe nahm.
Und schließlich "Prefaby" aus Tschechien, das ebenfalls mit binauralem Sound arbeitete, und als Objekttheater-Kammerspiel insgesamt zehn Mal vor jeweils acht Besuchern aufgeführt wurde. Es rekonstruiert überwiegend akustisch den Alltag eines alleinstehenden älteren Mannes, der sein Leben in einem sozialistischen Neubaublock verbrachte, und dessen Ideale von Gemeinschaft dabei ebenfalls ad absurdum geführt wurden.
Astrid Priebs-Tröger
1 Kommentar