Architektur und Geschlechternormen
Ein menschlicher Kopf im Käfig, fragmentierte Körper und gewaltvolle Umarmungen: Markante und düstere Bilder und Situationen dominierten den brasilianischen Beitrag "Gritos", der den zweiten Abend des 26. Unidram-Festivals eröffnete.
Die Wucht der größtenteils beklemmenden Atmosphäre und der prägnanten Bilder der brasilianischen Inszenierung "Gritos" (Schreie) hielt mich noch fest umfangen, als ich die zweite Inszenierung, den "Bildraum" von Charlotte Bouckaert und Steve Salembier aus Belgien besuchte.
Die zwar äußerlich in ähnlich dunklem Ambiente stattfindende Performance stand gefühlt in maximalem ästhetischem und inhaltlichem Kontrast zu der Vorhergehenden. Während in "Gritos" die sozialen und (inner-)psychischen Schwierigkeiten, in einem Land wie Brasilien offen homo- oder transsexuell zu leben, unter die Haut gehend thematisiert wurden, kamen in "Bildraum" Menschen augenscheinlich gar nicht vor.
Bis auf die beiden Akteure – die Fotografin Bouckaert und der Architekt Salembier – die die schwarz-weißen Bilder von modernen Bauten und Interieurs in Echtzeit auf eine zentrale weiße Leinwand projizierten.
Zu sehen waren nicht verortbare Gebäudefronten, Innenräume, Poollandschaften – nahezu alles ohne persönliche Hinterlassenschaften oder die körperliche Anwesenheit von Menschen. Manchmal klappten Türen oder hallten Schritte durch sterile Treppenhäuser oder es erklang das Ping-Pong von Tischtennisbällen in Schulungsräumen.
Wie in einem Sciencefiction-Film, der nach einer zukünftigen Katastrophe spielt, die anscheinend alles Organische ausgelöscht hat, fühlt sich das über weite Strecken an. Für diese Annahme spricht auch eine kurze Sequenz, in der die gesichtslose Poollandschaft durch eine Naturkatastrophe – Steinbrocken prasseln darauf nieder – unbenutzbar wird.
Doch die eigentliche Verwüstung hat schon viel früher stattgefunden. Nämlich, indem Menschen diese sterile, normierte und damit austauschbare Architektur überhaupt herstellten und massenhaft verbreiteten. Das wird beinahe körperlich erfahrbar in den beiden Bildern der nonverbalen, sogartigen Performance, die Innenräume mit braunem Holz, schweren Perserteppichen, farbig geblümten Tischdecken einblenden.
Das Primat des Industriellen/Seriellen über das Individuelle/Natürliche führen einem diese gegensätzlichen Sequenzen sich langsam ins eigene Innere nagend schmerzhaft vor Augen. Wie tröstlich, dass es zum Schluss in "Bildraum" auch noch andere Bilder gibt.
Mit grobem kristallinem Pulver, das auf weißen Untergründen verteilt und immer wieder von einem der Akteure mit den Händen zusammen- bzw. auseinandergeschoben wird, entstehen wunderbare Aufnahmen vom Meer, einem der Inbegriffe von Natur.
Die immerwährende menschliche Sehnsucht danach lässt die (inzwischen geringe) Hoffnung zu, dass Menschen letztlich doch eine Verbundenheit mit allem anderen Natürlichem anstreben. Oder dass – wie in "Gritos" der wuchtigen brasilianischen Inszenierung davor – starre soziale Geschlechternormen aufgehoben und vielfältige und somit natürliche (sexuelle) Identitäten von allen gelebt werden können. Was für ein spannungsreicher Abend!
Astrid Priebs-Tröger