Bewegend anders?!
Die Ausstellung mit dem ungewöhnlichen Namen "mockulig!" ist ein Schatz. Sie wurde im Rahmen des 2. Potsdamer Inklusionsfestivals "bewegend anders" im Kesselhaus des Waschhauses in der Schiffbauergasse eröffnet. Hier hängen jetzt mehr als zwei Dutzend zumeist farbenfrohe Bilder mit sehr unkonventionellen Titeln. Kakimassel, Wutorplosion oder Wommer ist dort unter anderem zu lesen.
28 Schüler*innen der 7. bis 10. Klasse der Oberlinschule haben diese erdacht und zugleich in Bildern umgesetzt. Und auch erklärt, was sie bedeuten. "Kakimassel" bezeichnet eine Alltagssituation von Menschen, die Unterstützung bei allen ihren täglichen Verrichtungen brauchen. "Man wird gezwungen, auf der Toilette zu sitzen", schreibt die Jugendliche, "obwohl man gar nicht muss und wartet mindestens 20 Minuten, bis jemand kommt."
Authentische Innensicht in die Gedanken und Gefühle junger Menschen mit Behinderung
Pflegealltag eben, sagt man sich als Außenstehender. Doch "Ich wurde vergessen" steht auch noch da und eben dieses beinahe poetische Wort, das den ganzen Vorgang in dieser fantasievollen Wortschöpfung zusammenfasst. So etwas bleibt haften. Eine "Wutorplosion" kriegt hingegen jemand, der sich beispielsweise als Autist zu stark beobachtet fühlt und ein "Wommer" beschreibt jemanden, der nie zufrieden ist.
Diese authentische Innensicht in Gefühle und Gedanken von Menschen mit Behinderungen, die man als aufmerksamer Betrachter im Waschhaus bekommt, ist immer noch sehr selten. Sie zeigt die Jugendlichen vor allem als selbstständige Subjekte und genaue Beobachter ihrer Umwelt. Dies kann wie beim "Öffidioten" – das sind die, die Rollstuhlfahrern gedankenlos ihre Gepäckstücke an den Kopf knallen – auch den sogenannten Normalos humorvoll-kritisch die Augen öffnen.
Eine ganz andere Herangehensweise zeigte die eigens für das Inklusionsfestival inszenierte Tanztheaterproduktion "Herr der Fliegen", die unter der Regie von Anja Kozik zur Premiere kam.
Kozik lud Künstler wie den Musiker Carlo Philipp Thomsen, die Flamencotänzerinnen Jojo Hammer und Vera Köppern, die Schauspielerin Juliane Götze sowie das Tüftlerduo Clemens Kowalski und Oscar Loeser ein, um gemeinsam mit vier jungen Frauen mit Behinderung und Studentinnen der Hoffbauer-Schule eine vielschichtige, multimediale Performance zu kreieren.
Individualität in sehr diversen Gruppen
Am Anfang und am Ende fährt eine junge Frau mit Down-Syndrom auf Rollschuhen behände durch die Szenerie, eine superschlanke, schwarzgekleidete Ballerina schält sich langsam aus dem roten, von der Decke hängenden Vertikaltuch und die Flamencotänzerinnen lassen immer wieder rhythmisch ihre Absätze klacken. Jede von ihnen kann sich in ihrer einzigartigen Individualität zeigen und auch immer wieder Bestandteil dieser sehr diversen Gruppe sein.
Wenn diese neun Frauen gemeinsam tanzen, respektive ihren Weg finden, sind das starke Bilder. Genau wie am Schluss, als die Performerinnen rote Wollknäule ins Publikum werfen und die Fäden bald symbolisch alle miteinander vernetzen. Denn anders als der Titel "Herr der Fliegen" vermuten lässt, geht es bei Kozik viel stärker um das Verbindende als das Trennende in der Frauengruppe und sie erlebt andere Situationen als in dem dystopischen Roman von William Golding beschrieben wird.
Inklusion statt Intergration braucht mehr Zeit
Über diese literarische Projektionsfläche werden zudem noch Auszüge aus Kathrin Passigs starkem Text "Sie befinden sich hier" gelegt, was die Performance nochmals verdichtet aber letztendlich überlädt. Und man wird an einigen Stellen den Eindruck nicht los, dass hier ein sehr vielschichtiges Konzept umgesetzt wird, anstatt auf das Zusammenwachsen der sehr unterschiedlichen Kreativität aller Beteiligten zu vertrauen. Allerdings tragen ein Probenzeitraum von vier Wochen und die ungewohnte Zusammenarbeit von Professionellen und Laien dazu bei, eher integrative Konzepte umzusetzen, anstatt wirklich inklusiv etwas gemeinsam entstehen zu lassen.
Astrid Priebs-Tröger
Dieser Text erschien am 24. September in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (PNN)