Angstlust
Der Tod ist allgegenwärtig. Doch in unserem modernen Alltag kaum noch direkt zu erleben. Stattdessen zieren Totenköpfe bereits die Bekleidung Sechsjähriger – nicht nur zu Halloween. Genau in dieser gruseligen Nacht auf Allerheiligen startete in diesem Jahr auch das 24. Unidram-Festival.
Und so baumelte in der finnischen Eröffnungsinszenierung "Cutting Edge" ein abgeschlagener (Götter-)Kopf von der Decke der Reithalle A des Hans Otto Theaters herab. Wenig später kam eine schwertschwingende Frau und durchtrennte den Faden, an dem dieser noch hing und er stürzte zu Boden – in viele Stücke zerberstend.
Schon dieses erste eindringliche Bild knüpft an bekannte Symboliken an. Sujets wie "Johannes, der Täufer und Salome" oder "Judith und Holofernes" haben nicht nur Carravaggio oder Artemisia Gentileschi beschäftigt, sondern durchziehen wie letzteres die Malerei vom späten Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert.
Eindringliche Bilder und faszinierende Symbolik
In "Cutting Edge", einer atemberaubend-rasanten Collage aus faszinierender Magiershow, barockem Theater zu Vivaldi-Klängen, Grusel- und Horrorstück sowie zeitgenössischem Tanz wurden viele dieser berühmten Bildwerke als Projektionen eingeblendet. Doch nicht nur das. Es gibt auch "echte" Männer ohne Köpfe, live zersägte Frauen und auch einen wachsenden Leichenberg zu sehen.
Und man schaut hin, wird nahezu magisch angezogen von dem, was hier in überhöhter theatralischer Form, das (fremde/eigene) Lebensende abbildet. Und: Dieses Angezogensein von den "letzten Dingen" steckt in (nahezu) jedem Menschen. Wie sonst erklärt sich die jahrhundertelange Schau- bzw. Angstlust bei Hinrichtungen oder die sich ausbreitende Manie, Handyfotos von schwerverletzten Unfallopfern auf der Autobahn zu machen?
Die finnische Gruppe um den Illusionisten Kalle Nio, den Jongleur Ville Walo und die Bühnen- und Kostümbildnerin Anne Jämsä hat mit "Cutting Edge" (dt. = Schneide) eine von Bildern und Gedanken überbordende Performance kreiert, die mit viel Neuer Magie diese Lust aufgreift und Fragen nach dem Sinn des Lebens, u. a. der nach der Grausamkeit des Menschseins stellt.
Nouveau Cirque und Neue Magie bekommen reichlich Platz, sich zu entfalten und auch als "moderner" Mensch ist man fasziniert, wenn Frauen zersägt und wieder zusammengefügt werden. Doch die Inszenierung geht auch soweit, zu zeigen, wie die "Kopflosigkeit" zwischen zwei Tischen funktioniert.
Jahrhundertealte Schau- und Angstlust
Aber eigentlich will man das gar nicht "wissen", weil es dann seinen Reiz verliert. Eine Szene zeigt auch einen sehr comichaften (Toten-)Tanz. Drei Figuren – eine mit Smiley-Maske, die zweite mit Totenkopf und die dritte mit Che-Guevara-Antlitz – umtanzen einander solange, bis der Smiley die von der Decke baumelnde Kettensäge ergreift, und dem Tod damit das Licht ausmacht.
Eine Bildsprache, an die sich heutzutage bereits Schulkinder gewöhnt haben. "Cutting Edge" treibt solche Extreme auf die Spitze und bleibt doch selbst im Ungewissen. Es lässt immer einen transparenten Schleier aus Gaze oder Plastikfolie zwischen dem Geschehen und dem Zuschauer stehen. Sodass man seiner Angstlust ohne eigenen Absturz frönen kann. Doch Bilder wirken (immer) nach …
Technisch perfekte Illusion
Am Ende jede Menge Konfetti, Blutlachen und dunkle Stille auf der Bühne und im Zuschauerraum, bis durch den zaghaft einsetzenden Beifall die technisch perfekte Illusion vertrieben wird. "Cutting Edge", das bei Unidram seine Deutschlandpremiere feierte, schließt beinahe nahtlos an das Festival des vergangenen Jahres an, das den Tod beziehungsweise das Zwischenreich zwischen Leben und Tod theatralisch feierte. Doch diesmal führen vor allem Frauen das Schwert.
Astrid Priebs-Tröger
Die 2. Vorstellung von "Cutting Edge" findet am 1. November statt. Am 3. und 4. November zeigen Kalle Nio "Departure" bei Unidram.