Danse macabre
Unidram ist auch am Ende seines dritten Jahrzehnts noch immer für bildgewaltige Überraschungen gut. Mit "Les Arrière-Mondes" (Deutsch: "Hinterwelten") der Compagnie Mossoux-Bonté aus Belgien wurde der 28. Jahrgang am Dienstagabend in der fabrik Potsdam mit einer Deutschlandpremiere eröffnet.
Sechs Performer:innen erscheinen darin immer wieder aus sechs engen schwarzen, parallelen Gassen und stellen einen bizarren Bilderreigen, der sowohl Anleihen bei der einzigartigen und geheimnisvollen Bildsprache von Hieronymus Bosch als auch der von Francis Bacon nimmt und somit auch ein halbes Jahrtausend Menschheits- und Ideengeschichte umfasst.
Man sieht in diesem zumeist im Zwielicht spielenden Werk, das ungemein kunstvoll zwischen Tanz, Theater und Performance changiert, unheimliche Figuren, die an Geister und Gespenster, an Irre und Besessene, an Verlorene oder Verrückte erinnern. Welche zumeist allein, aber auch zusammen im gleichen Rhythmus, manchmal beinahe ekstatisch tanzen.
Sie erscheinen nach- oder nebeneinander in kurzen weißen oder langen schwarzen Gewändern, mit Glatzen oder langwallender Lockenpracht, maskenhaften oder grimassierenden Gesichtern – auch schreienden Mündern – und sagen dabei kein einziges Wort.
Und charakterisieren beziehungsweise verkörpern doch treffend das, was sich in (unseren) nächtlichen Albträumen oder tagsüber total überhitzten Gedanken- und Gefühlswelten abspielen könnte.
Denn: In gesellschaftlichen Krisenzeiten wie diesen haben Irrationalität und Ängste Hochkonjunktur. Und was vor wenigen Jahren scheinbar nur in den Bereich der Fiktion gehörte, schleicht sich langsam aber stetig ins Alltagsleben.
Frühere Gewissheiten gibt es nicht mehr, das Ende der Menschheit scheint – im Angesicht multipolarer Krisen und der realen Gefahr eines (atomaren) 3. Weltkrieges – so nah wie schon lange nicht mehr.
Es ist, als würde "Hinterwelten" in die – gerade noch unter dem Deckel gehaltenen – Gefühls- und Gedankenwelten der menschlichen Spezies eintauchen und eindringliche Bilder für deren Ängste, Zweifel und Vorahnungen finden. Figuren, die wie irre an fremden Fäden zucken, miteinander interagierende seltsame Mischwesen oder zwei uralte Kinder treten auf und führen einen makabren Reigen auf.
Wenn man diesen an sich vorüber ziehen sieht, fragt man sich im (scheinbar) modernen Zeitalter von Rationalität und Wissenschaft, auf wessen beziehungsweise welche Saiten wir eigentlich gespannt sind. Nicht nur in der Liebe wie in Rilkes Gedicht von 1907, sondern vor allem im Kämpfen, im Untergehen, im aufscheinenden Tod.
Auch Shakespeares "Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt" irrlichtert durch die bildgewaltige, originelle Inszenierung, die von der ungeheuren Wandlungsfähigkeit der sechs großartigen Darsteller:innen – vier Frauen und zwei Männer – lebt. Und die sich unaufhaltsam und ikonografisch ins eigene und kollektive Gedächtnis gräbt und dabei eine seltsame Faszination ausübt.
Astrid Priebs-Tröger