Das Leben feiern
Dass Lia Rodrigues' neuestes Stück "Encantado" ausgerechnet in den schwierigsten Phasen der brasilianischen Corona-Krise entstand, ist ihm nicht anzumerken. Dieser fast übersinnliche Rausch aus Farben, Körpern, Klängen und Bewegungen feiert die Geister und das (menschliche) Leben.
In der Wahrnehmung der afro-indigenen Welt sind "Encantados" beseelte mystische Wesen, die durch ihren Aufenthalt an bestimmten Orten diese heilig werden lassen. Man sagt, dass sie den Himmel und die Erde verbinden.
Auf der fabrik-Bühne fällt als erstes eine riesige Stoffrolle, die über die gesamte Breite reicht, ins Auge. Im Halbdunkel und völliger Stille rollen sieben kniende Männer diese behutsam Zentimeter um Zentimeter aus, so dass am Ende ein ungemein vielfarbiger Teppich den Boden bedeckt. Farbenprächtige Blumen- und Animalprints und viel Rot und Orange lassen ein besonders starkes Energiefeld entstehen.
Dann betreten nach und nach zwölf nackte Tänzer:innen dieses Feld und beginnen, sich unter den unzähligen, mehr als einen quadratmetergroßen, einzelnen Tüchern zu verbergen, sich in diese einzurollen oder damit bedeckt z. B. zu überlebensgroßen Statuen aufzurichten. Alles dies geschieht noch in völliger Stille und großer Langsamkeit. Und auch die Tänzer:innen haben keinen Kontakt zueinander.
Die Dramaturgie für das Stück habe die Pandemie geschrieben, sagte Lia Rodrigues im anschließenden Zuschauer:innengespräch und die Vereinzelung – jede:r war (s)eine Insel – ist am Anfang gut nachzuvollziehen. Später bilden sich Paare und Dreiergruppen und am Ende gibt es wieder einen sehr dynamischen Kreis, dem alle angehören.
Lia Rodrigues, die ihre Companhia de Danças in einer Favela in Rio de Janeiro betreibt, berichtet, wie schwierig es war, die Compagnie finanziell durch die Pandemie zu bringen und außerdem noch soziale Unterstützung für mehr als 17.000 besonders von Armut betroffenen Familien in der Favela zu organisieren.
Welche überbordende Energie diese agile 66-Jährige und ihre ungemein diversen Tänzer: innen entwickeln, war in "Encantado" einmal mehr zu erleben. Lediglich mit ihren vielfarbigen Stofftüchern und fantastischer Bewegungsenergie entstehen eindrucksvolle Bilder und daraus Geschichten, die viel über das menschliche Leben und die Verbindungen zu Tieren und Pflanzen und Geistern erzählen.
Wie die der drei überlebensgroßen Hexen (-königinnen), die sich in tanzende Mädchen verwandeln, den Herrn mit seinen zwei schwarzen Hunden, die dann doch Sklaven sind und den Herrscher auf sich sitzen lassen müssen oder dem Paar mit dem Kind, das vor aller Augen aus einem Stoffstück geformt wird.
Grandios, was sich mit simplen Stoffstücken – ohne Nadel und Faden – alles herstellen beziehungsweise improvisieren lässt – das konnte man in "Encantado" nur voller Staunen erleben. Eine Bekleidungsindustrie ist da eigentlich überflüssig.
Stattdessen reichen Improvisation und Lebensfreude, Sinnlichkeit und Gemeinschaft vollkommen aus, um miteinander und auch mit der Natur im Einklang zu leben. Einmal mehr geht es Rodrigues, die seit 2001 mit der fabrik Potsdam verbunden ist, dabei auch um gesellschaftliche Utopie.
Den Soundtrack für den dritten Teil ihrer Aufführung lieferte übrigens ein 30 Sekunden-Ausschnitt einer Demonstration indigener Bewohner: innen Brasiliens, die sie in einen dynamischen Loop verwandelte und der der vielfarbigen Feier des Lebens in "Encantado" nahezu ekstatische Energien verleiht.
"Encantado", sagte Lia Rodrigues, ist der geöffnete Mantel (Brasiliens), der sich mit vielen Farben nach außen zeigt. Man konnte sich dem nur mit allen Sinnen hingeben und diese grandiose Anmut freudig genießen.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."