Der Geist des Ortes

Zer­bors­ten. Ver­wun­schen. Men­schen­leer. Ein wenig wie die ver­bo­te­ne Zone in Tar­kow­skis berühm­tem SF-Film "Stal­ker" wirkt das ehe­ma­li­ge Kaser­nen­ge­län­de im Pots­da­mer Orts­teil Kramp­nitz immer noch.

Auch wenn inzwi­schen fest­steht, dass aus den frü­he­ren Wehr­machts­ka­ser­nen und der spä­te­ren aut­ar­ken sowje­ti­schen Armee­stadt nach drei Jahr­zehn­ten Leer­stand Pots­dams nach­hal­tigs­tes und neu­es­tes Stadt­quar­tier ent­ste­hen soll. 

Am ers­ten Sep­tem­ber­wo­chen­en­de zum Tag der Offe­nen Tür hat Anja Koziks Oxy­mo­ron Dance Com­pa­ny den Geist die­ses Ortes in der Per­for­mance "Tanz weit drau­ßen – mit­ten­drin" tän­ze­risch erspürt und abge­bil­det. Sie­ben jun­ge Frau­en, die weder den zwei­ten Welt­krieg noch die DDR-Zeit erlebt haben, tanz­ten zu Mini­mal­mu­sic zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart und stell­ten infol­ge­des­sen auch Fra­gen an die Zukunft.

Kramp­nitz, 2023 – Foto: APT

Am Offi­ziers­haus mit der Num­mer 122 begann die 90-minü­ti­ge Per­for­mance. Aus dem hin­ter hohen Tan­nen und Eichen ste­hen­den, bis hin zum  Schorn­stein zer­bors­te­nen zwei­stö­cki­gen Haus erklan­gen Sphä­ren­klän­ge. Unten rechts aus einem zer­bro­che­nen Log­gia-Fens­ter schob sich lang­sam ein zar­ter Arm in die Höhe. Eine jun­ge Frau, ganz in weiß geklei­det mit lan­gem schwar­zen Haar beweg­te sich wie ein feen­haf­ter Geist mut­ter­see­len­al­lein in die­sem ehe­ma­li­gen Wohn­raum und ent­schwand  nach einer Wei­le wie­der im Inne­ren des unwirt­li­chen Hauses.

Von dort aus ging es in Rich­tung des hoch­auf­ra­gen­den dunk­len Turms des Mili­tär­ge­län­des, das auch schon als Film­ku­lis­se dien­te. Vor einer Tafel mit der kyril­li­schen Auf­schrift "Im Gar­ni­sons­of­fi­ziers­klub" beweg­te sich eine wei­te­re Per­for­me­rin zu kla­cken­den Maschi­nen­klän­gen, jedoch mecha­nisch und wie aufgezogen.

Kramp­nitz, 2023, Per­for­mance Tanz weit drau­ßen ‑mit­ten­drin – Foto: APT

Bis eine wei­te­re Frau mit Kopf­tuch und Eimer lang­sam zu einer nahe­ge­le­ge­nen Rui­ne ging. Hier ent­stand eine der stärks­ten Sze­nen die­ser inten­si­ven Per­for­mance. Als die Jun­ge auf einem schma­len Grat und dem sehr unebe­nen Unter­grund zu tan­zen ver­such­te. Kann vor die­sen Rui­nen, die­sen archi­tek­to­ni­schen und geschicht­li­chen Über­bleib­seln eigent­lich so etwas wie "Schön­heit" und/oder neue Grö­ße ent­ste­hen? Oder braucht man/sie ihre gan­ze Kraft dafür, den Boden unter den Füßen zu behal­ten und sich irgend­wie auszubalancieren?

Um Balan­ce ging es auch eine Sta­ti­on wei­ter. Die­se Tän­ze­rin arbei­te­te mit einer höl­zer­nen Kabel­rol­le, auf der sie wie auf einem Pferd saß und wirk­te in ihrem schwar­zen Anzug wie eine moder­ne Sol­da­tin, die in die­ser, über die Zei­ten wir­ken­den Situa­ti­on letz­ten Endes auch zur wei­ßen Fah­ne griff.

Kramp­nitz, 2023, Per­for­mance Tanz weit drau­ßen ‑mit­ten­drin – Foto: APT

An der schma­len Sei­te des rie­si­gen Offi­ziers­ka­si­nos stand eine wei­te­re Tän­ze­rin und wen­de­te dem Publi­kum ihren Rücken zu.  Die Türen und Fens­ter die­ses reprä­sen­ta­ti­ven Gebäu­des sind schon lan­ge ver­rie­gelt und ver­ram­melt; die­se Akteu­rin, die mit ihrer gol­de­nen Augen­mas­ke und der Feder­kro­ne an ein Revue­girl der Gol­de­nen Zwan­zi­ger erin­ner­te, hat längst kei­nen Zutritt mehr. Doch ihr Auf­tritt auf den mit Unkraut über­wach­se­nen Stu­fen des ehe­ma­li­gen Kul­tur­tem­pels zeig­te ein­drück­lich, wel­che Rol­le (Unterhaltungs-)Kultur beim Erhalt des jewei­li­gen Sys­tems spiel­te und spielt.

Im Innern des impo­san­ten Casi­nos tra­ten zwei wei­te­re Tän­ze­rin­nen auf. Hier ist der Gegen­satz zwi­schen dem (mili­tä­risch) Männ­li­chen und dem Weib­li­chen – in Form von Natür­lich­keit und Flie­ßen – unge­mein kör­per­lich zu spü­ren. In dem etwa hun­dert Qua­drat­me­ter gro­ßen Innen­hof mit ver­sieg­ter Fon­tä­ne ver­mag nur das Tan­zen der jun­gen Frau und die Erin­ne­rung an das Flie­ßen des Was­sers  die bedrü­cken­de Enge die­ses Rau­mes unter frei­em Him­mel auf­zu­bre­chen, der durch die sprie­ßen­den Robi­ni­en lang­sam in eine Oase, die er im eigent­li­chen Sin­ne wahr­schein­lich nie war, ver­wan­delt wird.

Kramp­nitz, 2023, Per­for­mance Tanz weit drau­ßen ‑mit­ten­drin – Foto: APT

Die letz­te Sta­ti­on war ein halb­dunk­ler, ehe­mals sehr reprä­sen­ta­ti­ver Raum mit über­manns­ho­hen dunk­len Holz­ver­tä­fe­lun­gen und gold-blau­er Decken­be­ma­lung. Die, die hier tanz­te, erin­ner­te in ihren Bewe­gun­gen an eine ver­sklav­te Frau. Es dau­er­te lan­ge, bis sie sich auf­rich­te­te, und sich dann auf dem Fens­ter­brett zu vol­ler Grö­ße streck­te. Die Fens­ter hin­ter ihr waren aller­dings zuge­mau­ert und bil­den wie­der­um nur einen neu­en Wall.

Ein­drück­li­che, meta­pho­risch auf­ge­la­de­ne Bil­der, signi­fi­kan­te Unter­schie­de zwi­schen Männ­li­chem und Weib­li­chem wur­den spür­bar an einem Ort, der mit sei­ner über­wie­gend mili­tä­ri­schen Geschich­te – auch im Ange­sicht der gera­de dro­hen­den Welt­kriegs­ge­fahr – nicht ein­fach über­schrie­ben wer­den kann und soll­te. Und: Frau­en soll­ten unbe­dingt ein­be­zo­gen wer­den, um die hier gespei­cher­ten Ener­gien zu erspü­ren und auszugleichen.

Kramp­nitz, 2023, Per­for­mance Tanz weit drau­ßen ‑mit­ten­drin – Foto: APT

Dan­ke an die 7 Tän­ze­rin­nen an 7 Orten: Ele­na Mar­tel­lo, Vero­ni­ca Par­lag­re­co, Ales­sia D’Isanto, Xenia Argi­ri, Ivi Riga, Sil­via Remi­gio und Vero­ni­ca Lil­lo, die dafür Weg­be­rei­te­rin­nen waren. 

Astrid Priebs-Trö­ger

03. September 2023 von Textur-Buero
Kategorien: Alltagskultur, Tanz | Schlagwörter: , , , , | Schreibe einen Kommentar

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