Doppelter Ausnahmezustand
Der zweite Tag der Potsdamer Tanztage war ein ungewöhnlicher, sehr intensiver Doppelabend. Mit "The pretty things" und "Losing it" wurden Stücke von zwei Frauen, die eine aus Kanada, die andere aus Palästina präsentiert. Der Westen traf auf den Nahen Osten, Krieg auf Frieden, Hochspannung auf Entspannung.
Samaa Wakim ist eine palästinensische Choreografin und Performerin, die im Krisengebiet aufgewachsen ist. Konstituierend für ihr Stück ist eine grün leuchtende Slackline, die diagonal über die dunkle T‑Werk Bühne verläuft. Die junge Performerin taucht aus der Dunkelheit auf. Wird sie die Slackline besteigen und darauf balancieren wie viele andere Jugendliche auf der Welt? Doch ist das überhaupt möglich in dieser unberechenbaren Situation, die ständig zwischen Normalität und Ausnahmezustand hin- und herpendelt?
Eine intensive, oft kakophonische Tonspur von Samar Haddad King mit ohrenbetäubenden Großstadtgeräuschen aus Straßenverkehr, arabischer Musik und Gebeten, aber auch Hubschrauberlärm und Gewehrsalven erzeugt bei der jungen Frau und in uns ein ständiges Wechselbad der Gefühle: Ist dem Vogelzwitschern oder dem Feuerwerk am Himmel überhaupt zu trauen, wenn unmittelbar davor/danach Sirenen und Schüsse ertönen?
Die grazile Performerin bewegt sich immer in der Nähe des fluoreszierenden Bandes, das den dunklen Raum in zwei Teile teilt. Mal hängt sie dran, oder liegt bäuchlings drüber, dann wieder versucht sie den Aufstieg und die Balance. Doch kann diese gelingen, wenn im eigenen Körper die Energien eines kriegerischen Ausnahmezustandes abgespeichert sind?
Die Körper der fünf älteren und jüngeren Performer:innen in Catherine Gaudets Choreografie "The pretty things" befinden sich ebenfalls im Ausnahmezustand: sie bewegen sich eine Stunde lang ohne Pause. Ihre Arbeit erinnerte an Jan Maartens Stück "The dog days are over", das 2015 bei den Tanztagen zu erleben war.
Anfangs noch mit sparsamen, nicht völlig synchronen Bewegungen, doch immer im gleichen Rhythmus der Musik von Antoine Berthiaume, die Anleihen bei der Minimal Music von Philip Glass nimmt. Mit den Anklängen eines Metronoms. Doch irgendwann verlassen sie ihren festen Standpunkt und formieren sich zu einer sehr dynamischen Linie, von der aus keine:r mehr aus der Reihe tanzt. Davor gab es hin und wieder Ausbruchsversuche aus der Konformität, die jedoch vom System toleriert wurden und sich schnell wieder einpendelten.
Alle brechen in Schweiß und ab und an in Anfeuerungsrufe aus, verfallen in kindisches Gebrabbel und Gekreische, nur, um immer weiter zu machen. Das Wort Leistungsträger kam mir in den Sinn, je länger ich der intensiven, nahezu soghaften Aufführung folgte. Doch hinter den roboterhaften Bewegungen verschwanden die konkreten Menschen, und je mehr deren individuelle Erschöpfung zunahm, umso euphorischer wurde performt – federnder Stechschritt inklusive.
Gegen Ende hin gibt es einen fast unmerklichen Moment des Innehaltens – und die jeweilige Individualität schien in der sich abzeichnenden Erschöpfung kurz auf – doch diese Entspannung konnte systemisch nicht zugelassen werden, denn dadurch wäre diese hochgepowerte Formation, die auch an Mechanismen der modernen Arbeitswelt erinnerte, zerbrochen.
Und was sind sie nun "die schönen Dinge"? Wer beide Performances an einem Abend gesehen hat, wird dies leicht beantworten können. In eine, wie auch immer geartete Balance finden, sich (selbst) nicht in den chaotischen Zeiten/ Umständen – hier wie da – zu verlieren, dürften auf jeden Fall dazugehören. Starke Statements aus sehr unterschiedlichen Welten, die jedoch beide den Kern der menschlichen Existenz berühren.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland."