Gehen oder Bleiben?
Sie haben es geschafft: Sie sind in Europa angekommen. Auf legalem Weg. Die Idolboyz – Ali Johnson und Ibrahima Ndiaye – gewannen 2022 den Sunu Talents Preis des Goethe-Instituts Senegal für ihr Stück "Mbeuk mi wossi" und sie sind jetzt damit bei den Potsdamer Tanztagen zu Gast.
Es beginnt in der Nacht. In einem Lichtkegel liegt etwas Weißes, das wie eine zusammengelegte Bettdecke aussieht. Plötzlich gerät diese in Bewegung. Und ein Mensch in weißer Kleidung, streckt und faltet sich auf dem Boden wieder zusammen.
Er kehrt den Zuschauer:innen im t‑Werk seinen Rücken zu. Er ist allein und scheint insgesamt in Abwehrhaltung. Langsam kommt er in einen Kopfstand. Man hört Wellengeräusche. Wenig später kommt der junge Mann weiter nach vorn, in einen zweiten Lichtkreis. Er wird größer und neben Verzweiflung ist auch Selbstbewusstsein – symbolisiert durch raumgreifende Posen aus dem Hip Hop – zu spüren und ein kleiner Rucksack zu sehen.
In erneuten Wellengeräuschen erscheint ein kleines bemaltes Fischerboot sehr weit hinten in der anderen Bühnenecke, Rauch steigt über ihm auf und ein zweiter Mann mit nacktem muskulösem Oberkörper wird sichtbar. Er ist in der winzigen Nussschale den rohen Naturgewalten ausgeliefert; sein Trinkwasser wird knapp und er hebt beide Arme flehend gen Himmel.
"Mbeuk mi wossi" heißt "Nein zur illegalen Auswanderung" und entstand, weil im persönlichen Umfeld der beiden befreundeten Hip Hop-Tänzer aus Thiès im Senegal, immer wieder junge Männer auf der illegalen Ausreise nach Europa starben. Ali Johnson und Ibrahima Ndiaye sind leidenschaftliche Tänzer und wollen diesem sinnlosen Tod, vor allem junger Menschen, etwas entgegen setzen.
Sie wenden sich damit nicht generell gegen Migration, die im Senegal sowohl mit sozialem Aufstieg als auch mit großen Opfern verbunden ist, sondern sie wollen etwas gegen das sinnlose Sterben tun. Und so führen sie "Mbeuk mi wossi" auch in Schulen auf, um mit Jugendlichen, von denen nicht wenige unter dem sozialen und familiären Druck stehen, ihr Glück in Europa zu suchen, ins Gespräch zu kommen.
Im Stück, das durch seine beiden großartigen, wunderbar aufeinander eingespielten und sehr artistischen Tänzer lebt, bedeutet dies, dass der aus dem Boot mit aller Kraft den anderen Jungen an seinem Vorhaben, das Boot zu besteigen, zu hindern versucht. Sie kämpfen, der Fluchtwillige wird sogar gefesselt, befreit sich wieder und das andauernde Kräftemessen, das an ein Battle erinnert, mündet schließlich in ein wunderbares Duett.
Hier sind die Kraft und die Schönheit der beiden Männer besonders sichtbar und es ist auch ein Verweis darauf, möglicherweise einen (Lebens-)Sinn im (gemeinsamen) Tanzen zu finden. Im Senegal gibt es eine reiche Tanztradition, was sich im Stück auch durch Musik aus verschiedenen Landesteilen wie dem Serere widerspiegelt. Allerdings fehlt, außer in Dakar, die Infrastruktur dafür und auch die beiden Idolboyz können nicht allein vom Tanzen leben.
In "Mbeuk mi wossi", das die Tänzerin Carla Petzolt in Senegal auf einem Festival sah und über den Berliner Verein "Kunstkartell" nach Europa holte, wird auf besondere Weise Kunst, Soziales und Politik verbunden. Die nächtliche Fluchtgeschichte, die auch der Alptraum eines Einzelnen sein könnte, spiegelt das Ringen einer ganzen Generation, ein würdevolles Leben zu leben. Und das sollte sowohl in ihrer Heimat als auch in Europa möglich sein.
Astrid Priebs-Tröger
Die nächsten Aufführungen sind am 17.06., 19.30, beim Cabuwazi Tempelhof
https://cabuwazi.de/2023/05/05/freedom-of-movement-2023-programm/
und am 28.06., 19 Uhr bei der floating University Berlin
https://floating-berlin.org/programmes/contaminations/contaminations-2023/
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland."