Intensive Ausstrahlung
Dieses eindringliche Nägelkratzen der attraktiven jungen Frau im roten Kleid werde ich nicht so schnell vergessen. Sie eröffnete damit den (alb-)traumhaften, betörend schönen Bilderreigen, der sich am vorletzten UNIDRAM-Tag in der italienischen Theaterproduktion "Frame" entfaltete.
In einem leeren Zimmer mit grauen nackten Wänden als Rahmen flossen diese – wie von Geisterhand erschaffen – nahezu nahtlos ineinander über. Wunderbar ihre poetische Vieldeutigkeit und das ständige Unterlaufen von Erwartungen. So zum Beispiel, als sich ein Bett im Raum, der Mal wie ein Hotel, dann wie eine Zelle oder ein Krankenzimmer wirkt, befindet. Eine Frau liegt darauf, ein Mann kommt hinzu und nein, es kommt nicht zu einer stürmischen Liebesnacht.
Die magischen Bildwelten des Theaters "Koreja", die vom Bilderkosmos des amerikanischen Malers Edward Hopper inspiriert sind, zielen auf ganz andere Dimensionen ab. In nur einem Moment wird aus der jungen eine alte Frau, die der Mann – vielleicht ihr früherer Liebhaber? – jetzt als gebückte Alte, fast wie ein Sohn, aus dem Zimmer führt.
Verstörend schöne Bilder menschlicher Einsamkeit
Grandios, wie in "Frame" auch Innen- und Außenwelt miteinander korrespondieren beziehungsweise verschmelzen. Auf der Rückwand des Zimmers befindet sich eine große Öffnung, durch die z. B. lebhafte Straßenszenen in die ansonsten sehr verlangsamten Bildwelten im Innern oder auch eine Kinoszene aus einem Liebesfilm eindringen.
Von "draußen" kommen durch sich unerwartet öffnende oder verschiebende Zimmerwände die insgesamt fünf Akteure – unter ihnen ein melancholischer Harlekin – und gruppieren sich immer wieder zu verstörend schönen Bildern von menschlicher Einsamkeit. Eines noch nicht bzw. nicht mehr Zusammenseins – letztlich, eines ständig aneinander Vorbeigleitens.
Da der vorletzte Abend sehr eng getaktet war, blieb leider keine Zeit, diesen wunderbar vieldeutigen Bildwelten ein wenig länger nachzusinnen. Denn die Möglichkeit, Tanztheater aus Litauen zu sehen, hat man nicht jeden Tag – auch nicht bei UNIDRAM.
In der fabrik eine vollkommen andere Szenerie. Zehn Tänzer stehen in, in der Ästhetik von Schachfiguren inspirierten Kostümen, auf einem weißen Spielfeld. Man sieht weder ihre Füße, noch ihre Gesichter, kann nicht feststellen, welchen Geschlechts sie sind. Anfangs gleiten sie lautlos, fast wie auf Rädern durch die unwirkliche, leblose Szenerie.
Eindeutig: Tanztheater aus Litauen
Nach und nach – und dem Ausruf "Es gibt Licht in der Dunkelheit!" – kommt endlich Leben in die Spielfiguren und sie beginnen, sich von den einengenden Kostümen zu befreien. Frauen und Männer, Schwarze, Weiße, Große und Kleine kommen zum Vorschein. Ein erster Individuationsprozess beginnt. Doch kurz darauf tanzen die freigesetzten jungen Leute – alle mit gleichartigen Shorts bekleidet – zu live produzierten Technoklängen.
In dieser Phase von "Game changer" geraten sie, ohne es zu merken, in ein weiteres Spiel, das keinen Wert auf wirkliche Individualität legt. Sie zucken im selben Takt, sehr athletisch und sehr kraftvoll zwar, jedoch mit uniformen Bewegungen, die sie schnell wieder Teil einer (Unterhaltungs-)Maschinerie werden lassen.
Erst als sich – nicht nur heterosexuelle Paare – finden, entfalten die Paare ein individuelles Bewegungsrepertoire, das das Publikum in der vollbesetzten fabrik am Schluss fast wie eine kleine Revolution begeistert feierte. Für mich als Zuschauerin, die oft und gerne modernen Tanz anschaut, hätte es sehr viel uneindeutiger, ein wenig schwebender enden können.
Astrid Priebs-Tröger