Vermeidung von Berührung
Der Mensch ist ein soziales Wesen, so sagt man. Doch in unserer überindividualisierten und zunehmend narzisstischen Gesellschaft kann sich das auch so anfühlen, wie es die griechisch-deutsche Choreografin Kat Válastur in ihrem Stück "Ah! Oh! A Contemporary Ritual" beim Made in Potsdam-Festival in der fabrik zeigte.
Schon die Körpersprache ihrer sechs, aus dem Dunkel auftauchenden Protagonisten ist eindeutig: aufgeblasene Backen, ausdruckslose Minen und ausgefahrene Ellenbogen. Durchdrungen von der eigenen Bedeutsamkeit hält sich jeder den/die anderen tunlichst vom Leib. Doch wie lange ist dies durchzuhalten? Vor allem in der Dunkelheit und dem enervierenden Dröhnen (Sound: Lambros Pigounis) der vergehenden Zeit?
Über den grau gekleideten Figuren, denen man erst mal nicht ansieht, ob sie Frau oder Mann, jung oder alt sind, ist eine kreisförmige Lichtinstallation von Martin Beeretz mit abwechselnd gleißenden oder flackernden Leuchtstoffröhren angebracht. Zu ihr streben alle mehr oder weniger hin. Und es ist diese (runde) Form, die beginnt so etwas wie Gemeinschaft zwischen ihnen zu konstituieren.
Denn energetisch, atmosphärisch, zwischenmenschlich ist da lange Zeit nichts. Kein Blickkontakt, keine Berührung, keine Anziehung. Also nichts von dem, was (soziale) Gemeinschaften ausmacht. Die drei Frauen und Männer stecken alle in ihren eigenen (Körper-)Panzern fest und misstrauen dem, was neben ihnen, unter oder über ihnen ist.
Kat Válastur, die in Berlin lebt und arbeitet, schuf sich einen eigenen philosophischen Kontext, in dem sie ihre Choreografien entwickelt. Was kann man eigentlich noch tanzen? – fragte sie sich bereits während ihres Studiums zu Beginn des neuen Jahrtausends. Fragmentierung, 'diverted architecture', Zeitraffer, Entropie und Virtualität sind einige der Begriffe, die ihren Arbeiten zugrunde liegen.
Auch die sechs Körper in "Ah! Oh! A Contemporary Ritual" bewegen sich in so einem ungewöhnlichen Kraftfeld, das ihnen bestimmte Bewegungsweisen abverlangt. Alle tanzen ihren eigenen Tanz, der sich in den stilisierten Bewegungen, die sie vollführen, trotz aller Individualität, erstaunlich ähnlich sieht: Vorsichtig tastend steht beispielsweise lange ein Fuß in der Luft, ehe er flüchtig auf den Boden gesetzt wird. Dies geschieht bei fast allen mit ausgefahrenen Ellenbogen und in den Jackentaschen versenkten Händen und den nahezu ausdruckslosen, aufgeblähten Gesichtern.
Doch gleichzeitig beginnt sich dies früh, anfangs nahezu unmerklich, zu ändern. Denn die Kreisform entwickelt einen eigenen energetischen Fluss, der die Tanzenden langsam aber stetig doch in Beziehung bringt. Kreistanzen bedeutet die Erfahrung von zyklischer Zeit. Der Kreis ist eine unendliche Linie, ein Raumweg, der sich immer wiederholt. Solch Tanzen lebt von der Wiederholung, vom Wiedererkennen, auch von der Lust, diese Energie zu erleben. Kreistanz ermöglicht so eine nonverbale Erfahrung des sich eingebunden Fühlens, sich tragen Lassens, des Kraft Schöpfens aus der entstehenden, gemeinsamen Energie.
Kat Válastur ist jedoch eine Meisterin in der Darstellung der Vermeidung von Berührung. Es gelingt ihr, im selben Moment die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und die Abwehr derselben zu zeigen. Wie berühre ich den Anderen nicht? Dies erinnert an die Doppelbindungstheorie (double bind), die die lähmende, weil doppelte Bindung eines Menschen an paradoxe Botschaften oder Signale und deren Auswirkungen beschreibt. Oder was sonst bedeutet diese Geste der im Kreis Tanzenden, als sie irgendwann die Münder des/der anderen berühren? Dessen/deren Inhalt schlürfen oder in der eigenen Tasche verschwinden lassen? Als ungemein schmerzhafte Intimität erscheint dies. Zärtlich und übergriffig zugleich.
Jede von Kat Válasturs Arbeiten beruht auf eigens angefertigten Diagrammen, Zeichnungen und Texten. 2013/14 war sie Stipendiatin am Institut für Raumexperimente unter der Leitung von Ólafur Eliasson an der Universität der Künste Berlin. Der sich vornehmlich mit physikalischen Phänomenen in der Natur wie Licht und Wasser, Bewegung und Reflexion, dem Zurückwerfen von Wellen an einer Grenzfläche, auseinandersetzt. Sie "übersetzt" diese physikalischen Phänomene in soziale Kontexte und erschafft so pointierte, schmerzhafte Menschenbilder.
"Ah! Oh!" steht im Titel ihrer Choreografie. Beides sind Interjektionen, also wortähnliche Gebilde, die Emotionen ausdrücken. Diese entstehen, als die sechs, inzwischen miteinander vertrauteren Protagonisten, die Kreisform kurzzeitig verlassen und dabei einen gemeinsamen Horizont in den Blick nehmen. Wie das zaghafte, gemeinsame Lachen hält auch dies wiederum nicht lange an. Es schafft aber den Durchbruch, Emotionen zu zeigen, jedenfalls für sich selbst. Ein Lächeln verzaubert kurzfristig einige (Männer-)Gesichter. Doch der Rückfall in die alten, einsamen Muster ist allgegenwärtig.
Solange, bis die donnergrollende, klopfende, zermürbende Tonspur in Schlagen übergeht, und so etwas wie "Schüsse" durchs Halbdunkel dröhnen. Dann herrscht plötzlich Stille und ein "Deus ex machina" der in Form eines kleinen beleuchteten Säckchens von der Decke schwebt, veranlasst die graue (Not-)Gemeinschaft, Schuhe und Jacken abzulegen und sich erneut unter dem Lichtkreis, der jetzt wie ein sanftes Lagerfeuer anmutet, zu versammeln. Wie langsam aus einem apokalyptischen Traum auftauchend, sitzen die Frauen und Männer auf dem Boden, essen etwas und vergewissern sich durch zaghafte Berührungen ihrer selbst.
Astrid Priebs-Tröger
Dieser Text erschien zuerst in den Potsdamer Neuesten Nachrichten vom 16.01.17