Leere Räume
Die Potsdamer Choreografin Paula E. Paul hat nervenaufreibende Wochen und Monate hinter sich. Und die begannen nicht erst mit, sondern schon vor "Corona".
Denn Anfang Oktober 2019 musste die Premiere von "Lost in formation" um mehrere Wochen verschoben und die darauf folgenden Vorstellungen am Jahresende konnten deswegen nicht mehr gezeigt werden.
Paula E. Paul und Sirko Knüpfer, die zusammen "Kombinat" – Verbindung von Tanz und Film – verantworten, waren dadurch gezwungen, Fördergelder von 2019 zurückzuzahlen. Und für die im April 2020 geplante Wiederaufnahme von "Lost in formation" neue beim MWFK zu beantragen. Und nachdem sie dies alles in trockenen Tüchern hatten, kam "Corona". Und damit der Lockdown.
Die Termine für die in Angriff genommene Wiederaufnahme wurden gestrichen und ihr parallel dazu beginnendes neues Jahres-Projekt "Die Schwarzen" konnte nicht wie geplant umgesetzt werden. Also hatten sie drei Großbaustellen gleichzeitig, denn ein neues Projekt für 2021 und ein Antrag dafür mussten ebenfalls erdacht und formuliert werden. Die Corona-Soforthilfe – bei Künstler*innen nur die Betriebskosten – half nicht wirklich und Paula E. Paul griff auf einen Restanspruch von ALG 1 zurück. Aber eigentlich will/muss sie arbeiten.
Doch wie sollte Mitte März sichergestellt werden, dass im Sommer 2020 eine Open-Air-Aufführung auf der Waschhausbühne stattfinden konnte? Mit Techniker*innen und Bühnenarbeiter* innen aus der gesamten Schiffbauergasse, die in einer einmalig aufgeführten Performance miteinander agieren sollten.
Paula E. Paul und Sirko Knüpfer standen vor einem Scherbenhaufen. Mit einem Anflug von Panik, wie Paula E. Paul gesteht. Doch die Förderung wollten sie auf keinen Fall zurückgeben. Doch sie – beide sind seit 2010 in einer Arbeits- und Lebensgemeinschaft verbunden – beschlossen (wieder einmal), aus der Not eine Tugend zu machen. Denn eigentlich arbeiten sie auch in "normalen" Zeit oft am (finanziellen) und kräftetechnischen Limit. "Es gibt keine Reserven", sagt Paula E. Paul nicht nur einmal im Gespräch. Und Ideen brauchen (auch) Zeit!
Aber jetzt musste wegen des Lockdowns und der nicht auskömmlichen Finanzierung des ursprünglichen blitzschnell ein neues Projekt her. Denn auch für einen neuen Antragsmarathon mit weiteren Geldgebern (wie bei "Lost in formation") – es fehlten mehr als 20.000 Euro am geplanten Gesamtetat – hatten beide keine Kraftreserven (mehr).
Und so kamen sie glücklicherweise auf die naheliegende und berückende Idee, während des allgemeinen Stillstands mit der Kamera in die jetzt verwaisten Theaterhäuser zu gehen und die Menschen, die dort sonst für das Publikum weitgehend unsichtbar im Hintergrund agieren (= Die Schwarzen) aber größtenteils auch jetzt noch da waren, in dieser für alle ungewöhnlichen und zudem existenziellen Situation zu befragen und sie performativ in ihrer Arbeitsumgebung in Szene zu setzen.
"Kunstpause" heißt ihre neue filmische Theaterarbeiter*innen-Interview-Performance, die die Zuschauer*innen in zehn verschiedene Potsdamer Theater und Kulturräume mitnimmt und sozusagen die kulturellen Eingeweide der Stadt offenlegt. Paula E. Paul sagt, dass dieses Projekt für sie gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlägt.
Endlich konnten sie sich bei den "Schwarzen", die auch im Hintergrund ihrer Produktionen seit zehn Jahren mitwirken, persönlich bedanken und hatten gleichzeitig die von allen geschätzte Gelegenheit, während des sogenannten "Social Distancing" doch regelmäßig mit anderen Menschen im Kontakt und im Gespräch zu sein.
Letztendlich, so die Choreografin, fühlte sich diese – jetzt alle betreffende – Krisensituation für sie überhaupt nicht so ungewöhnlich an, da sie bei allen ihren künstlerischen Projekten immer im Improvisationsmodus sind und mit dem umgehen müssen, was (gerade) ist. Jetzt eben mit leeren Räumen, für die Paula E. Paul sowieso ein Faible hat.
Und Krisen- und Resilienzerfahrungen sammelte sie bereits zu Ost- und Wendezeiten, als sie sich nach ihrem ersten dreijährigem festen Engagement für das freie Arbeiten entschied. Und wenn es während des Corona-Lockdowns doch mal mental kriselte, haben sich beide aneinander aufgerichtet und insgesamt viel und gut gekocht. Und wie viele andere auch die Naturräume in und um Potsdam genossen.
Paula E. Paul fand außerdem schön, wie sich die Kinder aus der Nachbarschaft mit ihren Spielen die jetzt nahezu leeren Straßen wieder erobert und ganz wie früher mit Gummihopse und Bällen gespielt haben. Wenige Wochen später ist auch dies schon wieder Geschichte und Paul und Knüpfer müssen sich jetzt sputen, die letzten "leeren" Räume zu filmen, denn auch in den Theatern beginnen – zum Glück – die Vorbereitungen für den Mit-Corona-Spielbetrieb.
Astrid Priebs-Tröger
Meine Premierenkritik zu "Lost in formation" finden Sie hier: https://textur-buero.de/fragmentierte-bilderfluten/