Oszillierende (Alb-)Traumwelten
Der Endspurt hat begonnen am Freitagabend bei Unidram. Und was für einer: Das Festival wartete am vierten Tag mit neun Vorstellungen in fünf Stunden auf. Nach dem Performance-Marathon vom Vortag – das tschechische Vater-Sohn-Drama wirkte immer noch nach – war eigentlich nicht mehr viel Platz für weitere Bilder und noch mehr aufwühlende Emotionen.
Von denen jedoch schon die Vorstellung "Departure" von Kalle Nio jede Menge in einem nahezu monochrom grau gehaltenen Paardrama bot. Das Wort "Departure" hat neben Abreise 14 weitere Bedeutungen – und neben den vielen Aufbrüchen und Auszügen war an einen (Neu-)Anfang zwischen diesen beiden Menschen kaum zu denken.
Verblüffende Bilder des Nicht-Zusammenkommen-Könnens
Doch die Unverwechselbarkeit der künstlerischen Handschrift von Kalle Nio, die sich in einem ungeheuren Reichtum an verblüffenden Bildern für das Nicht-Zusammen-Kommen-Können spiegelte, zog einen sofort in den Bann. Die magischen Fähigkeiten des finnischen Künstlerkollektivs taten dabei ihr Übriges.
Da entwickelten graue Mäntel ein wundersames Doppelleben, Tischdecken tropften in zähen grauen Fäden auf den Boden und gläserne Wände veränderten wie von Zauberhand ihre angestammte Position. Und selbst für ein befreiendes Lachen war Platz: Die Bügelaktion mit dem einzig quicklebendigen Oberhemd sorgte dafür.
Tänzerische Intensität, Sinnlichkeit und Poesie
Nicht nur humorvoll ging es auch im nachfolgenden Tanztheaterstück "Kokoro" von Lali Ayguade aus Spanien zu. In einem imaginären Kirchenraum trafen dort zufällig drei Männer und eine Frau zusammen, die mit großer Intensität, Sinnlichkeit und Poesie Beziehungskonstellationen, Machtfragen und Lebensabschnitte auf den Punkt brachten.
Besonders eindringlich die Schlussszenen, in denen Anna Calsina Forrellad wie im Zeitraffer die Lebensphasen einer Frau durchlebt und gerade noch in der Blüte ihres Lebens stehend, als Greisin einsam in einem Sessel ihr Leben aushaucht.
Albtraumhafte Berge von Toten
Um die kollektive Erinnerung an das massenhafte Morden und Sterben des 2. Weltkrieges ging es in der Objekttheater-Installation "Rothko Chapel" des israelischen Regisseurs und Darstellers Sjaron Minailo. Inspiriert von Bildern Mark Rothkos und der Musik Morton Feldmanns, die sich beide mit der künstlerischen Darstellung des Holocaust befassten, entwickelt Minailo eine eindringliche Installation, die das heutige Publikum mit dem Phänomen des Vergessens konfrontiert.
Nur schemenhaft kann man sehen beziehungsweise mit dem (noch) vorhandenen Hintergrundwissen erahnen, was der Künstler hinter den drei farbig-oszillierenden Lichtzellen bewegt. Menschenketten, die an Weihnachtsbaumbeleuchtung erinnern, Spielzeugautos, aus denen massenhaft Leichen rutschen oder Messschieber, mit denen er nach der Rassenideologie der Nazis langsam sein Gesicht vermisst.
"After every war someone has to clean up", steht am Ende wie ein Menetekel an der weißen Wand. Und Minailo verteilt noch das Gedicht "The End and the Beginnung" von Wisława Szymborska, die darin – neben aller Geschäftigkeit – das kontemplative Erinnern einfordert.
Astrid Priebs-Tröger