Potsdamer Lebensadern
Jede:r Potsdamer:in beziehungsweise jede:r Besucher:in der Stadt wird mit dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) konfrontiert. Und da nichts bleibt, wie es ist, kann man an diesem auch großartig die Geschichte(n) einer Stadt erzählen.
Dies geschieht in der fulminanten Werner Taag- Fotoausstellung "Potsdamer Linien", die bis Anfang 2024 im Potsdam Museum zu sehen ist. Zusätzlich zum normalen Eintrittsticket bekommt man einen papiernen 1980er Jahre-Fahrschein ausgehändigt, den man am Eingang zum wenige Quadratmeter großen Ausstellungsraum im Untergeschoss selbst entwerten kann.
Gleich dahinter wird man mit dem damaligen und heutigen Verkehrsknotenpunkt "Platz der Einheit" konfrontiert – eine riesige schwarz-weiß Fotografie von Bussen und Straßenbahnen stimmt auf die DDR-Alltagsfotografie der vorwiegend 1960er bis 80er Jahre ein.
In der ungemein vielschichtigen Ausstellung mit 400 Fotos und Dutzenden Exponaten kann man auch auf Einzelporträts von Bussen und Straßenbahnen der damaligen Zeit erfahren, um welche Modelle es sich handelt. Denn neben Ikarussen fuhren auch Busse der französischen Marke Chausson oder tschechische von Skoda durch Potsdam.
Werner Taag, der im Brotberuf jahrzehntelang selbst bei den Verkehrsbetrieben arbeitete, dokumentierte vor allem in seiner Freizeit das Potsdamer Stadtleben seit 1949. Im Eingangsbereich sind mehrere Schnappschüsse von Kindern gehängt, die sehr direkt in seine Linse blicken. Außerdem sieht beziehungsweise erinnert man, dass die Jüngsten damals von einer Erzieherin im weißen Kittel im Siebensitzer-Sportwagen durch die Stadt geschoben wurden.
Für mich als Angehörige der sogenannten Babyboomer-Generation erwecken diese episodischen Alltagsaufnahmen viele verschüttete respektive überformte Erinnerungen, auch, wenn ich erst seit der Wende in Potsdam lebe. Und es wäre großartig, aus Taags Fotos einen Bildband zu machen. 2018 konnte das Potsdam Museum insgesamt 40.000 Fotos aus seinem Nachlass erwerben.
Denn nicht nur die zahlreichen Fotos von Arbeiter:innen bei den Verkehrsbetrieben, sondern auch die eingefangenen Alltagsimpressionen von jungen Frauen in Sommerkleidern auf der Langen Brücke oder eines vor der Nikolaikirche sitzenden, Eis essenden Mädchens erzählen Alltagsgeschichte(n) eines untergegangenen Staates. Und sie vermitteln das Lebensgefühl von Menschen, die die Erschütterungen des Krieges hinter sich gelassen haben und an einer lebenswerten Zukunft arbeiten.
Dieses "Alles verändert sich" und "Es geht aufwärts" ist in beinahe jedem Foto zu spüren. Es wird auch in den zahlreichen Begleittexten, die den verschiedenen Verkehrsknotenpunkten der Stadt zugeordnet sind, vermittelt. Man erfährt viel von den Potsdamer 1960er Aufbaujahren und kann die sozialistische Utopie förmlich mit Händen greifen. Beispielsweise, wenn man sieht, dass Fahrkarten für Bus oder Bahn eine beziehungsweise 1,50 Mark kosteten. Nicht für eine, sondern für insgesamt acht oder 12 Fahrten.
Damals entstehen vor allem im Süden die Potsdamer Plattenbaugebiete, die Werner Taag ebenfalls fotografierte, genauso wie 1973 die Fertigstellung der Potsdamer Freundschaftsinsel, die, wie auf Fotos zu sehen, durch vieler Hände Arbeit entstand.
Ja, dieses Bild von Arbeit, das seine Fotografien vermitteln, ist eines, wie es kaum noch zu sehen ist. Schwere körperliche und Handarbeit – beispielsweise die Straßenbahnen wurden innen und außen von einem halben Dutzend Frauen mit Schrubbern gesäubert – herrschen vor und heute weiß fast niemand mehr, was eigentlich ein "Ritzenschieber" machte.
Schön ist auch, dass man den sympathischen Fotografen selbst sieht und auch zwei der Fotoapparate – eine sowjetische Leica der 1950er Jahre und die Praktica LTL aus den 70ern – mit denen er seine großartigen dokumentarischen Alltagsaufnahmen machte.
Und wie vielfältig seine Interessen als Fotograf waren, zeigen sowohl einige wenige Landschaftsaufnahmen aus Potsdams Umgebung als auch das Foto einer sogenannten Konsumkaufhalle. Mit dem fahrbaren Original-Einkaufswagen davor – der nur ein Viertel der Fläche und die Hälfte der Höhe von heutigen Modellen umfasst – gelingt es den engagierten Kuratorin:nen Judith Granzow und Robert Leichsenring pointiert, auch die Unterschiedlichkeit des Konsumverhaltens von gestern und heute abzubilden.
Astrid Priebs-Tröger