Pralles (Er-)Leben

Ich war ein­ge­la­den. Am 8. Novem­ber woll­ten die Mit­glie­der des inklu­si­ven Lite­ra­tur­klubs des Hau­ses der Begeg­nung Pots­dam aus ihrer neu­es­ten Antho­lo­gie lesen. Die sie anläss­lich ihres 30-jäh­ri­gen Jubi­lä­ums in die­sem Jahr ver­öf­fent­licht haben. Doch der zwei­te Coro­na-Lock­down mach­te auch die­se Ver­an­stal­tung zunichte.

"Der Mensch braucht Kul­tur wie täg­lich Speis‘  und Trank …" ist in dem Sam­mel­band zu lesen und die­ser Aus­sa­ge ist nichts hin­zu­zu­fü­gen. Denn der in fünf Kapi­tel unter­glie­der­te Band, der den Titel "Phan­ta­sie & Wirk­lich­keit zu jeder Jah­res­zeit" trägt,  legt  selbst bered­tes Zeug­nis vom "Lebens­mit­tel Kul­tur" ab.

19 Autor*innen, in der Mehr­zahl Frau­en sowie sechs Män­ner, die den Jahr­gän­gen 1928 bis 1988 ange­hö­ren,  mit oder ohne Behin­de­rung leben, schon sehr lan­ge oder erst nach der Been­di­gung des Erwerbs­le­bens zu schrei­ben began­nen, bekräf­ti­gen mit jeder geschrie­be­nen Zei­le, dass sie Spra­che und Poe­sie in ihrem Leben brauchen.

Es ist unge­mein auf­schluss­reich und berüh­rend, wie die­se Men­schen mit den unter­schied­lichs­ten beruf­li­chen Hin­ter­grün­den  – u. a. aus der sozia­len Arbeit, der Land­wirt­schaft oder des Trans­port­we­sens – zusam­men­wir­ken und dies bei einem Alters­ab­stand von fast drei Gene­ra­tio­nen und den geleb­ten Erfah­run­gen aus drei Gesellschaftssystemen.

Die meis­ten von ihnen stam­men aus Ost­deutsch­land und haben einen Groß­teil ihres Lebens in Bran­den­burg ver­bracht und doch könn­ten ihre Ver­se, Erzäh­lun­gen und Geschich­ten nicht unter­schied­li­cher sein.

Vie­le von ihnen las­sen uns lite­ra­risch ver­dich­tet teil­ha­ben an inten­si­ven Natur­be­ob­ach­tun­gen, ihren sehr unter­schied­li­chen All­tags­er­leb­nis­sen oder den eige­nen Kind­heits- und Jugend­er­in­ne­run­gen. Die Autor*innen sind mit Ernst, Iro­nie und Witz dabei. Man­che von ihnen haben schon eige­ne Roma­ne veröffentlicht.

Doch in die­ser bunt gemisch­ten Grup­pe, die in wech­seln­der Zusam­men­set­zung seit drei Jahr­zehn­ten exis­tiert, geht es nicht dar­um, lite­ra­ri­sche Meri­ten zu erwer­ben. Son­dern dar­um, mit- und unter­ein­an­der im Gespräch zu sein und zu blei­ben. Etwas, das in Coro­na-Zei­ten – die­ser "Jah­res­zeit" wur­de neben den vier bekann­ten ein eige­nes Kapi­tel gewid­met – beson­ders wich­tig ist.

Es ist bei der Fül­le und der Unter­schied­lich­keit der Geschich­ten "unge­recht", eini­ge beson­ders her­vor­zu­he­ben. Wer sich in die­ses viel­stim­mi­ge lite­ra­ri­sche Kalei­do­skop hin­ein­be­gibt, ver­wan­delt sich bei­spiels­wei­se in ein Pus­te­blu­men-Kind, unter­nimmt mit einer demen­ten Dame Muse­ums­be­su­che, reist nach Ams­ter­dam, Paris oder an die Ost­see­küs­te. Oder geht mit (s)einem Groß­va­ter den Win­ter suchen.

Die Lie­be schil­lert in allen Far­ben, und der Augen­blick wird kost­bar im Ange­sicht von Krank­heit und Tod. Men­schen mit Behin­de­run­gen berich­ten, wer oder was sie in ihrem All­tag aus­bremst, eine Groß­mutter schreibt einen erns­ten Brief an ihr neu­ge­bo­re­nes Enkel­kind. Und auch die Kli­ma­kri­se hat längst Ein­gang ins Füh­len und Schrei­ben gefun­den. Aber auch unbän­di­ge Lebenslust.

Eines ist allen Bei­trä­gen gemein­sam: Pral­les Leben und Erle­ben. 2019 wur­de der Lite­ra­tur­klub sehr ver­dient mit dem Inklu­si­ons­preis für inklu­si­ve Kul­tur des Lan­des Bran­den­burg ausgezeichnet.

Astrid Priebs-Trö­ger

Mit Tex­ten von: Bet­ty Begel, Rena­te Böthig, Jörg Darm­er, Rolf Gut­sche, Elke Hübe­ner-Lip­kau, Karin Köp­pen, Karl Kreutz, Vin­zenz Hagen Albrecht-Lan­ge, Kat­rin Lem­ke, Bas­ka Lin­den­ber­ger, Bea­tri­ce Lin­ke, Julia­ne Mül­ler, Sabi­ne Pfei­fer, Man­fred Rich­ter, Hedy Rönz, Rena­te Schran, Hei­ke Schul­ze, Hein­rich von der Haar, Iris Zimpel

 

19. November 2020 von Textur-Buero
Kategorien: Allgemein, Alltagskultur, Literatur | Schlagwörter: , , , | Schreibe einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert