Reisen im Kopf
Die Potsdamer Tanztage sind für mich immer ein kulturelles Fenster zur Welt. Bei der diesjährigen 31. Ausgabe wurde dieses erneut sehr weit aufgestoßen, als die QDance Company von Qudus Onikeku aus der 22 Millionen-Einwohner: innenmetropole Lagos im Hans Otto Theater zu Gast war.
Bisher spielte Nigeria in meiner inneren Tanzlandschaft überhaupt keine Rolle und auch mit dem einwohnerreichsten Land Afrikas mit seinen vielen verschiedenen Volksgruppen, über 500 Sprachen und Kulturen habe ich mich nicht beschäftigt. Bisher.
So ist es kein Wunder, dass ich mich in der Deutschlandpremiere von "RE:INKARNATION" über weite Strecken fühlte wie jemand, der zum ersten Mal ein völlig fremdes Land betritt und dessen Sprache nicht einmal rudimentär versteht, geschweige denn beherrscht. Und sich ein wenig bange alles ähnlich Scheinende heranzieht, um wenigstens über das Vergleichen zum Verstehen zu kommen.
Die in vier Teile gegliederte Choreografie von Qudus Onikeku, der 1984 in Lagos geboren wurde, begann mit einem Prolog (Ajosepo genannt), dessen Ernst- und Formelhaftigkeit in wahrscheinlich historischen Kostümen erst an dessen Ende durch heftige Kopulationsbewegungen der zehn Tänzer:innen und die unmittelbar darauf folgende Geburt eines neuen Menschen für mich greifbar wurde.
"Geburt" (Ibi) war dann auch der zweite Teil überschrieben und man tauchte augenblicklich in das quirlige Nachtleben einer überaus jungen Stadtgesellschaft ein – in Nigeria beträgt das momentane Durchschnittsalter 18,1 Jahre. In Deutschland dagegen über 46 Jahre, was beinahe der durchschnittlichen nigerianischen Lebenserwartung von 52 Jahren entspricht. Man hat es also mit vollkommen unterschiedlichen, ja geradezu gegensätzlichen Gesellschaften zu tun.
Farbenfroh, jung und dynamisch, aber auch gefährlich und brutal präsentierten die lachenden Tänzer:innen die urbane nächtliche Straßenszene, in der ein schönes Paar miteinander tanzt und unmittelbar daneben ein (Raub-)Mord – wahrscheinlich wegen eines regenbogenfarbigen T‑Shirts – geschieht. Streetdance und Hip Hop – das medial vorherrschende Afrikabild von Intensität, Lebensfreude, mit überbordender, auch sexueller Energie – wird gezeigt. Es gibt spontanen Szenen-beifall.
Mit "Tod"/Ikú ist der nächste Part überschrieben. Um Eéjun zu werden, ist zu lesen, muss man zuerst sterben, was (auch) den Ausstieg aus der Modernität bedeutet. Und nun beginnt der fremdeste, für mich in Worten unfassbarste Teil der Inszenierung, die sich auf Prinzipien der Yoruba-Kultur bezieht, der auch Onikeku entstammt. Sie sind eine der drei größten Volksgruppen in Nigeria, mit jahrhundertealter Philosophie.
Man braucht angeblich zehn Jahre, um deren Prinzipien zu verstehen bzw. zu verinnerlichen. Also bemühe ich hier keine "dummen, sondern besser keine Worte" dazu. Und versuche zu beschreiben, was ich sah.
Ein weiß bepuderter Tänzer, der sich wie in (Alb-)Träumen bewegt, dazwischen Kinderstimmen, plötzlich erscheint eine exotisch gekleidete Gruppe, alle haben Stöcke, mit denen sie auf den Boden stoßen. Leben, Tod und Liebe sind sehr nah beisammen und immer sichtbar, wie auch in der vorherigen Straßenszene. Bald erscheinen mehr weiß gepuderte Menschen und solche, die aussehen, als seien sie gleichzeitig auch den Vögeln zugehörig. Nach einem langen E‑Gitarren-Solo ohne "Geister" auf der Bühne, beginnt die 4. Szene, Atubi/ "Wiedergeburt". Hier geht es um Reinigung durch Feuer und (wieder) "Schwarz werden", was die Gruppe mittels schwarzer Ganzkörperbemalung steigert.
Als Agnostikerin habe ich erwartungsgemäß ein Problem mit dem Begriff der Reinkarnation, der fleischlichen Wiedergeburt des Menschen. Für mich gibt es nach dem Tod bestenfalls eine energetische Umwandlung des vormals Organischen nach dem allgemeinen Energieerhaltungssatz. Doch ich spüre auch, dass das (manchmal) zu wenig ist in unserer von allem Magischen und Mystischen "befreiten" modernen Welt.
Onikekus Inszenierung hat noch einen weiteren, womöglich wichtigeren Aspekt. Ihm geht es, der lange zwischen Frankreich und Afrika pendelte, und 2014 in Lagos sein Tanzzentrum für junge Menschen ohne westliche Tanzausbildung etablierte, auch und wohl viel mehr um eine kulturelle und spirituelle Wiedergeburt, die Stärkung und Behauptung seines Volkes sowie insgesamt des afrikanischen Kontinents.
Die dem westlichen Demokratie- und Wohlstandsmodell als sogenanntes Schwellenland mit einer Armutsquote von 46% nicht atem- und kritiklos hinterherhecheln, sondern sich auf die eigenen unglaublich reichen kulturellen Traditionen – mit so wunderbaren "Lebensregeln" wie denen der Yoruba (die im vierten Teil zitiert wurden) besinnen sollte. Und womöglich dabei ihr, ein utopisches Potenzial für weitere Teile der Welt entfalten könnten.
Ich sage DANKE für die tänzerisch überaus vitale und vor allem philosophisch weitreichende Horizonterweiterung!
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."