Requiem für Utøya

Was für ein unter die Haut gehen­der Abend, was für ein kol­lek­ti­ves Gesamt­kunst­werk! Fast drei­ein­halb Stun­den drang am zwei­ten Uni­dram-Abend der nor­we­gi­sche Dra­ma­ti­ker und Regis­seur Tore Vagn Lid in das natio­na­le Trau­ma sei­nes Hei­mat­lan­des vor.

"03:08:38 Sta­tes of Emer­gen­cy" von Tran­sit­eatret Ber­gen rekon­stru­iert mit Ele­men­ten des Objekt­thea­ters und ori­gi­na­len Radio­se­quen­zen pro­spek­tiv, also vor­aus­schau­end, den Nach­mit­tag des 22. Juli 2011, an dem das Brei­vik-Atten­tat die nor­we­gi­sche Haupt­stadt Oslo und die Feri­en­in­sel Utøya erschüt­ter­te. 77 Men­schen wur­den dabei ins­ge­samt ermordet.

Tran­sit­eatret-Ber­gen_030838 Sta­tes of Emer­gen­cy ©UXBAL

Der Thea­ter­abend beginnt mit den all­täg­li­chen Radio­nach­rich­ten und der ers­ten Mel­dung über ein Atten­tat im Regie­rungs­vier­tel. Bereits da wird die Rol­le des Radi­os – und von moder­nen Medi­en im All­ge­mei­nen – von Nach­rich­ten und soge­nann­ten Exper­ten sicht­bar. Lan­ge geht es ein­fach atem­los wei­ter im aktu­el­len Pro­gramm u. a. mit  "The final Count­down" der schwe­di­schen Hard­rock-Band Europe.

Doch neben der plap­pern­den Sprach­lo­sig­keit der unbe­rühr­ba­ren Radio­mo­de­ra­to­ren, der Ober­fläch­lich­keit der Lage­ana­ly­sen von soge­nann­ten Exper­ten plop­pen auch ganz schnell  nahe­zu welt­weit die übli­chen Feind­bil­der – isla­mis­ti­scher Ter­ror – auf.

Man ist auch in der Schin­kel­hal­le sofort drin im spä­tes­tens seit 9/11 bekann­ten Aus­nah­me­zu­stand, der in den welt­weit ver­netz­ten Medi­en in immer glei­chen Mus­tern abläuft bezie­hungs­wei­se pro­pa­gan­dis­tisch insze­niert und aus­ge­schlach­tet wird.

Die media­le Bericht­erstat­tung stürzt sich nach der Explo­si­on in  Oslos Regie­rungs­vier­tel auf Mut­ma­ßun­gen und Mei­nun­gen, Feind­bil­der machen die Run­de und wer­den (pau­sen­los) ver­brei­tet. Dass es sich um einen nor­we­gi­schen Rechts­extre­men han­deln könn­te, kommt da nie­man­dem in den Sinn.

In "03:08:38 Sta­tes of Emer­gen­cy" sind etwa 30 Performer*innen betei­ligt: Zeich­ner, Musi­ker, Klang­ar­tis­ten und ein Chor jun­ger Men­schen, die in Echt­zeit agie­ren und dabei gefilmt und auf zwei Lein­wän­de an den Stirn­sei­ten des Thea­ter­rau­mes pro­jekt­ziert werden.

Auf einem Zeit­strahl (in Minu­ten) fin­det die Rekon­struk­ti­on vor allem des Utøya-Atten­tats statt. Denn Brei­vik fuhr von Oslo dort­hin, um als Poli­zist ver­klei­det, in der Som­mer­fri­sche gezielt 69 Jugend­li­che zu ermorden.

Der erschüt­tern­de und berüh­ren­de Abend besteht aus sehr unter­schied­li­chen Sequen­zen. Deut­lich ist zu spü­ren, dass es Tore Vagn Lid im Utøya-Teil dar­um geht, vor allem den Opfern ein Denk­mal zu set­zen. Hier wird der Tat­her­gang minu­ti­ös rekon­stru­iert. Zum Bei­spiel wird die Blut­spur, die der Täter hin­ter­ließ, durch eine rote Faser­stift­spur, die sich lang­sam aber ste­tig um/über die gan­ze Insel zieht, immer wie­der versinnbildlicht.

Auf Utøya wird kaum noch gere­det bezie­hungs­wei­se kom­men­tiert, son­dern ver­in­ner­licht. Das fängt damit an, dass die hal­be Stun­de die Brei­vik war­tend auf dem Park­platz ver­bringt, mit span­nungs­vol­len Tönen, auch denen eines Metro­noms unter­malt wird. Als die Nach­richt ein­trifft, dass Opfer zu bekla­gen sind, wird in Oslo wie­der ober­fläch­lich tech­nisch drü­ber gere­det, wäh­rend in der Per­for­mance der jugend­li­che Chor u. a. Schu­berts Lied "Der Tod und das Mäd­chen" intoniert.

Sein Gesang tas­tet sich minu­ti­ös an die Orte des Gemet­zels her­an und weh­klagt um die Opfer. Und ver­deut­licht so den Wahn­sinns­kon­trast zwi­schen plap­pern­der Sprach­lo­sig­keit und gefühl­tem Schmerz. Als dann schließ­lich die Ereig­nis­se in Utøya in die Nach­rich­ten gelan­gen und ein ers­ter Hub­schrau­ber mit Jour­na­lis­ten dort lan­det, bricht das Requi­em ab. Denn es ist alles gefühlt und  bedarf kei­ner Wor­te mehr.

Astrid Priebs-Trö­ger

Wei­te­re Vor­stel­lun­gen fin­den im Rah­men des Fes­ti­vals "Thea­ter der Din­ge" am 9. und 10. Novem­ber in Ber­lin in der Alten Mün­ze statt, Beginn um 17 bzw. 16.30 Uhr. 

07. November 2024 von Textur-Buero
Kategorien: Allgemein, Performance, Theater | Schlagwörter: , , , , | Schreibe einen Kommentar

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