Schreiben und Lieben

Annie Ernaux war mir bis zur Ver­lei­hung des Nobel­prei­ses kein Begriff. Und was ich hör­te oder über sie las, beweg­te mich erst­mal nicht, ein Buch von ihr zu lesen. Doch dann sah ich auf arte ihren Film "Die Super-8-Jah­re" und war ange­fixt, in ein/ihr frem­des Leben einzutauchen.

Als schließ­lich der FREI­TAG-Jour­na­list Chris­ti­an Baron über sie schrieb und dabei sag­te, dass er, nach­dem er ihre Pro­sa gele­sen hat­te (was er eben­falls nicht auf Anhieb tat), dass er durch ihre Art zu schrei­ben, sich zum eige­nen lite­ra­ri­schen Schrei­ben ermu­tigt fühl­te, konn­te ich nicht mehr anders und kauf­te "Die Jahre".

Mit dem Anfangs­satz "Alle Bil­der wer­den ver­schwin­den" und dem Schluss­satz "Etwas von der Zeit zu ret­ten, in der man nie wie­der sein wird" – ich gucke in jedem Buch, das ich lese danach – hat­te sie jeden­falls bei mir ins Schwar­ze getroffen.

Also begab ich mich mit der inzwi­schen über 80-Jäh­ri­gen in ihre/unsere (gemein­sa­me) Zeit. Sie ist wie mein Vater ein Kriegs­kind, und hat, anders als er, ein star­kes Bedürf­nis, ihr Gewor­den­sein zu reflek­tie­ren. Als Kind der unte­ren fran­zö­si­schen Mit­tel­schicht, das nach sozia­lem Auf­stieg durch Abitur und Stu­di­um, weder zur ange­stamm­ten noch zur erar­bei­te­ten Klas­se gehört.

Eine Frau, die im Zuge der fran­zö­si­schen  1968er Frau­en­be­we­gung ihr eige­nes Frau­sein reflek­tiert und sich an den Geschlech­ter­ste­reo­ty­pen reibt. Weil sie vor allem zwei "Din­ge" tun will: Schrei­ben und Lieben.

Und das erzählt sie. Anfangs mit­hil­fe von Fotos, dann mit Gefühls­zu­stän­den aus Tage­buch-auf­zeich­nun­gen und schließ­lich mit dem Blick auf Fami­lie, Arbeit, Frei­zeit, Kul­tur und Politik.

Zuerst habe ich Pro­ble­me, mich mit dem fran­zö­si­schen Lebens­ge­fühl der 1950/60er Jah­re anzu­freun­den bzw. aus­ein­an­der­zu­set­zen. Vor allem weil mir Film­ti­tel, Poli­ti­ker­na­men etc. nichts sagen. Doch je wei­ter Ernaux in mei­ne (bewuss­te) Zeit vor­dringt – also ab Mit­te der 70er Jah­re – umso mehr beschäf­tigt mich "Die Jahre".

Denn Ernaux ent­wirft ein lite­ra­ri­sches Tableau, das gesell­schaft­li­che (also per­sön­li­che und poli­ti­sche sowie kul­tu­rel­le) Zustän­de und Ent­wick­lun­gen bei­na­he sozio­lo­gisch wider­spie­gelt. Durch ihr Buch zieht sich z. B. die Beschrei­bung von Fami­li­en­fei­ern, die lan­ge durch das Erzäh­len von Kriegs­ge­schich­ten domi­niert waren.

Und irgend­wann steht da in den 70ern der Satz: "Die Ver­bin­dung zur Ver­gan­gen­heit war geschwächt. Man gab nur noch die Gegen­wart wei­ter." Und dass die abge­bro­che­ne fami­liä­re Erzähl­tra­di­ti­on unter ande­rem mit dem immer stär­ker aus­ufern­den Kon­sum und der gro­ßen räum­li­chen Ent­fer­nung der Fami­li­en­mit­glie­der zusam­men­hängt, kann man bei Annie Ernaux nachverfolgen.

Damit beleuch­tet sie Phä­no­me­ne, die mich selbst schon lan­ge umtrei­ben und es ist, als fädel­te sich "mei­ne" Geschich­te nach dem Mau­er­fall neu. Denn ich habe ja eine Vor­ge­schich­te – im ehe­ma­li­gen Ost­block – und muss­te mich ähn­lich wie Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund an die neue (über­ge­stülp­te) Gesell­schafts­ord­nung anpas­sen, um in ihr leben zu können.

Die ande­ren Ver­hal­tens­wei­sen "erler­nen" bzw. mei­ne eige­ne Sozia­li­sa­ti­on immer wie­der infra­ge stel­len, was bis heu­te zu schmerz­haf­ten Erfah­run­gen führt. Bei Ernaux jeden­falls wird mir eine per­sön­li­che Geschich­te sehr unver­stellt in einem klar benann­ten gesell­schaft­li­chen Rah­men erzählt. 

Sie benutzt nicht die Ich-Form dafür, son­dern spricht von "ihr" bezie­hungs­wei­se sel­ten von "man". Das macht ihre auto­fik­tio­na­le Pro­sa so durch­läs­sig für mich und mei­ne eige­ne Geschichte(n). Obwohl wir nicht der glei­chen Gene­ra­ti­on ange­hö­ren, ist sie eine wirk­li­che lite­ra­ri­sche Ent­de­ckung für mich.

Astrid Priebs-Trö­ger

27. Januar 2023 von Textur-Buero
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