Symbiose versus Synthese
Was hat Akrobatik eigentlich mit modernem Tanz zu tun? Das fragt man sich im Angesicht der oft starken Aufführungen in der Tradition des Nouveau Cirque, die sowohl in der Potsdamer fabrik als auch im T‑Werk immer wieder zu sehen sind.
Was entsteht, wenn ein Puppenspieler und ein Artist zusammenarbeiten, konnte man kongenial in "Wir wollen nie nie nie" von JARNOTH und Moritz Haase erleben, die ganz am Anfang ihrer sowohl artistischen als auch poetischen und philosophischen Performance zuerst einmal Objekte tanzen ließen: Eine weiße vierstufige Treppe bewegte sich zu Beats und Meeresrauschen wie von Zauberhand gezogen über die Bühne, ein Trapez und ein schwarzes Kleid schwangen in der Luft und eine kleine Stoffpuppe wagte ein paar Schritte.
Der Begriff Akrobatik hat französische und griechische Wurzeln und bedeutet sinngemäß "auf Zehenspitzen gehen" beziehungsweise "hoch gehen" und man versteht darunter im Allgemeinen körperliche Bewegungen, die an die Ausübenden große koordinative und konditionelle Anforderungen stellen. Überschläge, Salti oder auch menschliche Pyramiden gehören dazu und die Grenzen zum Tanz sind fluide.
Die beiden jungen Männer – nur mit schwarzen Unterhosen bekleidet und identischen weißen Glatzen versehen – sind indes im Inneren des beweglichen Treppenpodests versteckt und schieben sich langsam und dabei an siamesische Zwillinge erinnernd ans Licht. Ihre enge körperliche Verbundenheit wird sicht- und fühlbar und man weiß nicht, wer von ihnen der Artist und wer der Puppenspieler ist.
Ihre gemeinsame Verbindung respektive Sprache scheint in erster Linie die gemeinsame tänzerische Bewegung zu sein. Ihre Körper harmonieren miteinander, ergänzen und verstehen sich. Der alte Schlager "Wir wollen niemals auseinandergehen" von 1960 hingegen konterkariert ihre Beziehung perfekt. Sie sind nicht dieses ideale "Liebespaar", das darin besungen wird, sondern eher Brüder im Körper und im Geist. Und ihre Sprache ist die Bewegung, ist Tanz. Und diese(n) zelebrieren sie, wenn ihnen nicht etwas dazwischen kommt.
Hier ist dieses Etwas eine kleine Stoffpuppe ohne primäre Geschlechtsmerkmale, ohne Gesicht und doch ist das, was sie tut, oft sehr komisch und zudem sehr beredt. Die Puppe kann beide verbinden, aber auch genauso gut entzweien und kommt damit der Rolle von Kindern in Paarbeziehungen sehr nahe. Pas des deux oder Ménage à trois – in "Wir wollen nie nie nie" scheint alles möglich. Und: Geschlechtsidentitäten scheinen nicht mehr wichtig, das achtsame Zusammenleben oder –agieren von Menschen hingegen schon.
Das kommt auch in der zweiten verbalen Szene zum Ausdruck, als der Puppenspieler JARNOTH zur (einsamen) Trapezakrobatik von Moritz Haase Else Lasker-Schülers "Weltende" von 1903 zitiert und damit der universellen Sehnsucht nach Liebe Ausdruck verleiht. Spätestens hier wird aus der anfänglichen Symbiose souveräne Synthese zweier Künstler, die mit Regisseur Philipp Boë seit 2018 als "Raum 305" zusammenarbeiten.
Großartiges Tanz‑, Akrobatik- und Bildertheater, das in einer schlichten schwarz-weiß Ästhetik daherkommt, und wie die Akteure selbst sagen, angetreten ist "eine spartenübergreifende, innovative Bühnensprache zu entwickeln." Chapeau!
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland."