Symbiose versus Synthese

Was hat Akro­ba­tik eigent­lich mit moder­nem Tanz zu tun? Das fragt man sich im Ange­sicht der oft star­ken Auf­füh­run­gen in der Tra­di­ti­on des Nou­veau Cir­que, die sowohl in der Pots­da­mer fabrik als auch im T‑Werk immer wie­der zu sehen sind.

Was ent­steht, wenn ein Pup­pen­spie­ler und ein Artist zusam­men­ar­bei­ten, konn­te man kon­ge­ni­al in "Wir wol­len nie nie nie" von JARNOTH und Moritz Haa­se erle­ben, die ganz am Anfang ihrer sowohl artis­ti­schen als auch poe­ti­schen und phi­lo­so­phi­schen Per­for­mance zuerst ein­mal Objek­te tan­zen lie­ßen: Eine wei­ße vier­stu­fi­ge Trep­pe beweg­te sich zu Beats und Mee­res­rau­schen wie von Zau­ber­hand gezo­gen über die Büh­ne, ein Tra­pez und ein schwar­zes Kleid schwan­gen in der Luft und eine klei­ne Stoff­pup­pe wag­te ein paar Schritte.

Raum 305, »Wir wol­len nie nie nie«. Foto: Promo

Der Begriff Akro­ba­tik hat fran­zö­si­sche und grie­chi­sche Wur­zeln und bedeu­tet sinn­ge­mäß "auf Zehen­spit­zen gehen" bezie­hungs­wei­se "hoch gehen" und man ver­steht dar­un­ter im All­ge­mei­nen kör­per­li­che Bewe­gun­gen, die an die Aus­üben­den gro­ße koor­di­na­ti­ve und kon­di­tio­nel­le Anfor­de­run­gen stel­len. Über­schlä­ge, Sal­ti oder auch mensch­li­che Pyra­mi­den gehö­ren dazu und die Gren­zen zum Tanz sind fluide.

Raum 305 »Wir wol­len nie nie nie«. Foto: André Wirsig

Die bei­den jun­gen Män­ner – nur mit schwar­zen Unter­ho­sen beklei­det und iden­ti­schen wei­ßen Glat­zen ver­se­hen – sind indes im Inne­ren des beweg­li­chen Trep­pen­po­dests ver­steckt und schie­ben sich lang­sam und dabei an sia­me­si­sche Zwil­lin­ge erin­nernd ans Licht. Ihre enge kör­per­li­che Ver­bun­den­heit wird sicht- und fühl­bar und man weiß nicht, wer von ihnen der Artist und wer der Pup­pen­spie­ler ist.

Raum 305 »Wir wol­len nie nie nie«. Foto: André Wirsig

Ihre gemein­sa­me Ver­bin­dung respek­ti­ve Spra­che scheint in ers­ter Linie die gemein­sa­me tän­ze­ri­sche Bewe­gung zu sein. Ihre Kör­per har­mo­nie­ren mit­ein­an­der, ergän­zen und ver­ste­hen sich. Der alte Schla­ger "Wir wol­len nie­mals aus­ein­an­der­ge­hen" von 1960 hin­ge­gen kon­ter­ka­riert ihre Bezie­hung per­fekt. Sie sind nicht die­ses idea­le "Lie­bes­paar", das dar­in besun­gen wird, son­dern eher Brü­der im Kör­per und im Geist. Und ihre Spra­che ist die Bewe­gung, ist Tanz. Und diese(n) zele­brie­ren sie, wenn ihnen nicht etwas dazwi­schen kommt.

Hier ist die­ses Etwas eine klei­ne Stoff­pup­pe ohne pri­mä­re Geschlechts­merk­ma­le, ohne Gesicht und doch ist das, was sie tut, oft sehr komisch und zudem sehr beredt. Die Pup­pe kann bei­de ver­bin­den, aber auch genau­so gut  ent­zwei­en und kommt damit der Rol­le von Kin­dern in Paar­be­zie­hun­gen sehr nahe. Pas des deux oder Ména­ge à trois – in "Wir wol­len nie nie nie" scheint alles mög­lich. Und: Geschlechts­iden­ti­tä­ten schei­nen nicht mehr wich­tig, das acht­sa­me Zusam­men­le­ben oder –agie­ren von Men­schen hin­ge­gen schon.

Das kommt auch in der zwei­ten ver­ba­len Sze­ne zum Aus­druck, als der Pup­pen­spie­ler JARNOTH zur (ein­sa­men) Tra­pe­z­akro­ba­tik von Moritz Haa­se Else Las­ker-Schü­lers "Welt­ende" von 1903 zitiert und damit der  uni­ver­sel­len Sehn­sucht nach Lie­be Aus­druck ver­leiht. Spä­tes­tens hier wird aus der anfäng­li­chen Sym­bio­se sou­ve­rä­ne Syn­the­se zwei­er Künst­ler, die mit Regis­seur Phil­ipp Boë seit 2018 als "Raum 305" zusammenarbeiten.

Raum 305 »Wir wol­len nie nie nie« Foto: André Wirsig

Groß­ar­ti­ges Tanz‑, Akro­ba­tik- und Bil­der­thea­ter, das in einer schlich­ten schwarz-weiß Ästhe­tik daher­kommt, und wie die Akteu­re selbst sagen, ange­tre­ten ist "eine spar­ten­über­grei­fen­de, inno­va­ti­ve Büh­nen­spra­che zu ent­wi­ckeln." Chapeau!

Astrid Priebs-Trö­ger

Die Arbeit an die­sem Arti­kel wur­de "geför­dert durch die Beauf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung für Kul­tur und Medi­en im Pro­gramm NEUSTART KULTUR, Hilfs­pro­gramm DIS-TANZEN des Dach­ver­band Tanz Deutsch­land."

18. Februar 2023 von Textur-Buero
Kategorien: Tanz, Theater | Schlagwörter: , , , | Schreibe einen Kommentar

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