Loslassen und Kontrolle

Wäh­rend die Performer:innen von VoLA Stage Art sonst an bis zu 60 m hohen Häu­ser­wän­den oder an den Rui­nen am Ber­li­ner Teu­fels­berg ver­ti­kal tan­zen, lie­gen sie in "Encoun­ters", der neu­es­ten Insze­nie­rung der Com­pa­ny, erst ein­mal alle regungs­los auf dem Boden der Waschhaus-Arena.

Dort befin­det sich, mar­kiert mit zwei Dut­zend Leicht­me­tall­stä­ben, ein rie­si­ges Vier­eck, unter­teilt in neun Qua­dra­te,  in denen acht Frau­en und ein Mann iso­liert von­ein­an­der ruhen. Die­ses Anfangs­bild ist eine Remi­nis­zenz an die Zeit der Coro­na-Pan­de­mie, in der alle ange­hal­ten waren, Kon­tak­te zu ande­ren zu vermeiden.

"Encoun­ters", Foto: Ron­ny Horning

Zeit­wei­se unter­malt mit Vogel­zwit­schern mutet es zwar anfangs fast wie eine Idyl­le an, aber die dunk­le Ener­gie der Ver­ein­ze­lung ist trotz­dem zu spü­ren. Zum Glück kommt bald Bewe­gung in die­ses star­re Bild und in die Grup­pe. Die aus jun­gen und inter­na­tio­na­len Dar­stel­ler: innen aus den Berei­chen Artis­tik, Akro­ba­tik und Tanz besteht, und die Gren­zen zwi­schen die­sen ver­schie­de­nen Dis­zi­pli­nen unge­mein flui­de wer­den lässt.

"Encoun­ters", Foto: Ron­ny Horning

Bald tan­zen acht von ihnen in ihren Qua­dra­ten im glei­chen Takt; eine Frau mit lan­gen roten gefloch­te­nen Zöp­fen ist und bleibt allein. Sie wird, nach­dem alle ande­ren die metal­le­nen Begren­zun­gen zer­stört und  die Büh­ne ver­las­sen haben, mit einem wei­ßen Cyr Wheel – ähn­lich einem Rhön­rad – sich sehr artis­tisch bewe­gen. Und so eine flie­ßen­de Ver­bin­dung zwi­schen Artis­tik und Tanz her­stel­len und außer­dem zei­gen, wie wich­tig  – inner­halb und außer­halb von Grup­pen – die eige­ne Indi­vi­dua­li­tät ist. "Til­ge, Höchs­ter mei­ne Sün­den", Bachs Arran­ge­ment von Per­go­le­sis "Sta­bat Mater" (1736) erklingt dazu.

"Encoun­ters", Foto: Ron­ny Horning

In "Encoun­ters" stellt sich die Grup­pe um die Regis­seu­rin und Cho­reo­gra­fin Anett Sim­men, die seit 2014 besteht, unter ande­rem Fra­gen danach, wie der Ein­zel­ne und die Gesell­schaft mit- und/oder auch gegen­ein­an­der funk­tio­nie­ren, wie der Mensch sich in sei­nen Bezie­hun­gen zu sei­nes­glei­chen, zur Natur, zur Tech­nik oder zum Spi­ri­tu­el­len definiert.

Das ist sehr viel auf ein­mal, aber mit den erst­klas­si­gen artis­ti­schen und tän­ze­ri­schen Dar­bie­tun­gen durch­aus aus­zu­drü­cken.  Nahe­zu magisch wird es, als  eine Frau, schwe­re­los wie im All zu schwe­ben beginnt oder zwei ande­re an einer von der Decke hän­gen­den Schlin­ge ihre Pirou­et­ten dre­hen. Mit den Mit­teln der Part­ner­akro­ba­tik geht es wie­der­um um Gemein­schaft und Ver­trau­en, immer wie­der um die Pole von Los­las­sen und Kon­trol­le. Fas­zi­nie­ren­de Figu­ren ent­ste­hen zwi­schen dem ein­zi­gen männ­li­chen "Encounters"-Darsteller und sei­ner Partnerin.

"Encoun­ters", Foto: Ron­ny Horning

Im letz­ten Drit­tel der Auf­füh­rung wer­den aus den Leicht­me­tall­stä­ben meh­re­re Tetra­eder – eine der  sta­bils­ten Ver­bin­dun­gen – geformt und von Ein­zel­nen und irgend­wann auch von der gan­zen Grup­pe besetzt. Jede:r trägt hier ihren/seinen Teil zum gemein­sa­men Kunst­werk bei. Zu den Klän­gen und Wor­ten von Sound­walks und Pat­ti Smit­hs "Spi­ri­tu­al Death" wird fühl­bar, wie viel­fäl­tig und kom­plex Gemein­schaft sein kann und wie kon­sti­tu­ie­rend sie für den Ein­zel­nen ist.

Im Gegen­satz zum Anfang sind die Prot­ago­nist: innen nicht mehr iso­liert, son­dern dicht gedrängt in einem der Tetra­eder ver­sam­melt, sie ste­hen sich spä­ter in zwei Grup­pen gegen­über und gehen schließ­lich doch durch das "gemein­sa­me Haus" ins nicht näher defi­nier­te Wei­te. Es bleibt span­nend, was sich aus die­ser ers­ten Zusam­men­ar­beit zwi­schen der im Wasch­haus ansäs­si­gen Oxy­mo­ron Dance Com­pa­ny von Anja Kozik und der VoLA Stage Art ent­wi­ckeln wird.

Astrid Priebs-Trö­ger

Die Arbeit an die­sem Arti­kel wur­de "geför­dert durch die Beauf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung für Kul­tur und Medi­en im Pro­gramm NEUSTART KULTUR, Hilfs­pro­gramm DIS-TANZEN des Dach­ver­band Tanz Deutsch­land."

23. Februar 2023 von Textur-Buero
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