Türkei: Lieben oder Verlassen?

Ein­hun­dert Jah­ren tür­ki­scher Repu­blik ist die aktu­el­le Foto-Aus­stel­lung in der ae-Gale­rie gewid­met. Und eigent­lich ist es unmög­lich, einen so lan­gen Zeit­raum mit 40 Fotos abzu­bil­den. Doch die Qua­dra­tur des Krei­ses scheint Kura­to­rin Ange­li­ka Euch­ner in die­sem Fall zu gelingen.

Denn Euch­ner greift iko­no­gra­fi­sche Momen­te auf, die die­ses Jahr­hun­dert von 1923–2023 zusam­men­hal­ten bezie­hungs­wei­se kon­sti­tu­ie­ren. Das Foto "Wahl­kampf Erdo­gan oder Ata­türk", Istan­bul 2006 von Tho­mas Kum­me­row zeigt leit­mo­ti­visch, wor­um es in der Aus­stel­lung geht. Bei­de Poli­ti­ker­por­träts hän­gen auf rie­si­gen Fah­nen neben­ein­an­der – links Erdo­gan, rechts Ata­türk – und man spürt bereits hier die ideo­lo­gi­sche Zer­ris­sen­heit des Landes.

Tho­mas Kum­me­row: "Wahl­kampf  Erdo­gan oder Ata­türk", Istan­bul 2006

Die Aus­stel­lung beginnt chro­no­lo­gisch mit der Grün­dung der tür­ki­schen Repu­blik auf den Trüm­mern des Osma­ni­schen Rei­ches unter Ata­türk. Eine gan­ze Wand  ist die­sem cha­ris­ma­ti­schen Mann gewid­met. Sei­ne Bedeu­tung für die Tür­kei und die Ver­eh­rung für ihn, die bis heu­te anhält, sind dabei zu spüren.

Euch­ner, deren Gale­rie sich schwer­punkt­mä­ßig schon lan­ge mit dem ara­bi­schen Raum beschäf­tigt, hat dies­mal 11 ganz unter­schied­li­che Fotograf:innen ver­sam­melt, die zwi­schen Abu Dha­bi, Ber­lin, Buka­rest, Istan­bul, Madrid, Pots­dam, Prag und Sevil­la leben und arbeiten.

And­rei Pungov­schi, "Demons­trant für den Gezi-Park" (Nr.12), Istan­bul Juni 2013

Neben dem berühm­ten MAGNUM-Foto­gra­fen Ara Güler (1928–2018), der als "Auge Istan­buls" gilt und von dem zwei pri­va­te Leih­ga­ben mit Stadt­an­sich­ten aus den 50er Jah­ren zu sehen sind, gibt es Fotos von Ergun Çağa­tay (1937–2018), der ab 1968  als Foto­jour­na­list für die Agen­tur Asso­cia­ted Press arbei­te­te und von dem Farb­fo­tos vom "Tür­kisch-deut­schen Leben 1990", z. B. Gemüsehändler:innen aus ver­schie­de­nen Orten Deutsch­lands zu sehen sind.

Das The­ma Arbeits­mi­gra­ti­on wird genau­so wie die schlei­chen­de (Rück-)Islamisierung durch den seit 2014 amtie­ren­den Prä­si­den­ten Erdo­gan mit den aus­ge­wähl­ten Fotos the­ma­ti­siert. Des­sen Poli­tik und ihre Fol­gen fin­det beson­ders in den Bil­dern von drei Fotograf:innen ihren Niederschlag.

And­rei Pungov­schi, Occu­py Gezi.  (Nr.86)

Tho­mas Kum­me­row belich­tet Erdo­gans Poli­tik als Bür­ger­meis­ter von Istan­bul und Petra Dacht­ler por­trä­tiert in ihrer 2021/22 ent­stan­de­nen Serie "Flucht­punk­te" Män­ner, die ihr Land ver­las­sen muss­ten, um dort in Fol­ge des Putsch­ver­su­ches von 2016 nicht inhaf­tiert zu wer­den. Ein ehe­ma­li­ger Staats­an­walt und ein hoher Minis­te­ri­al­be­am­ter sind jetzt in ihrer Ent­wur­ze­lung zu erspüren.

Im Sou­ter­rain der Gale­rie ist der rumä­ni­sche Foto­graf And­rei Pungov­schi zu ent­de­cken, des­sen kraft­vol­le Fotos aus der Serie "Occu­py Gezi-Park" die emo­ti­ons­ge­la­de­ne, revo­lu­tio­nä­re Atmo­sphä­re in Istan­bul im Juni 2013 – unge­mein kom­plex einfangen.

Andrea Künz­ig, "Frau­en im Fisch­re­stau­rant", Istan­bul 2010

Und auch das letz­te Foto – ein rie­si­ges Graf­fi­to von Halil Alt­in­de­re aus dem Jah­re 2005 – bringt mit der Auf­schrift "Ya sev – ya ter­ket" (Lie­ben oder Ver­las­sen) die wider­spruchs­vol­le Bezie­hung die­ses 1977 gebo­re­nen Foto­gra­fen zu sei­ner Hei­mat zum Ausdruck.

Zwi­schen die­sen gesell­schaft­li­chen Brenn­punkt­fo­tos sieht man auch Bil­der von Ata­türks Som­mer­haus, einer Kir­che, die zur Moschee umge­wan­delt wur­de oder Stadt­sze­nen aus Istan­bul von der Pots­da­me­rin Beret Hamann und Fotos, die den wirt­schaft­li­chen Fort­schritt doku­men­tie­ren, so von Clau­dia Wiens aus der Serie "Mar­ma­ray Tun­nel Pro­jekt". Und nicht zuletzt Fotos von Andrea Künz­ig, die das All­tags­le­ben zwi­schen Tra­di­ti­on und Moder­ne einfangen. 

Die­se kalei­do­skop­ar­ti­ge Aus­stel­lung, die sich laut Aus­sa­ge von Ange­li­ka Euch­ner auch als Fort­bil­dungs­pro­jekt ver­steht und mit zahl­rei­chen Tex­ten und Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen bestückt ist, ermög­licht einen viel­schich­ti­gen Blick auf die heu­ti­ge Tür­kei, in der Tra­di­ti­on und Moder­ne eine wider­spruchs­vol­le Bezie­hung ein­ge­gan­gen sind. Und: Sie lädt dazu ein, sich mit ihren Wur­zeln und dem Wir­ken Ata­türks zu beschäftigen. 

Astrid Priebs-Trö­ger

Bis 10. Novem­ber in der ae-Gale­rie jeweils Mitt­woch bis Frei­tag von 15 bis 19 Uhr, Sams­tag von 12 bis 16 Uhr geöffnet.

23. Oktober 2023 von Textur-Buero
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