Beseelter Bilderstrom

Es ist nicht leicht, die­se Cho­reo­gra­fie des jun­gen ara­bi­schen Tän­zers und Cho­reo­gra­fen Adi Bout­rous in Wor­te zu fas­sen. Denn ein Wort ist, genau­so wie ein Bild, immer nur eine Moment­auf­nah­me. Und in Bout­rous "Reflec­tions" reiht sich ohne Unter­lass, anfangs sehr gemäch­lich, spä­ter dyna­mi­scher, eine Moment­auf­nah­me an die andere.

Das ers­te Bild ist, so scheint es, fest. Schon vor Auf­füh­rungs­be­ginn liegt ein Mann – beklei­det mit einem wei­ßem lang­ärm­li­gen Hemd und schwar­zer Hose – lang aus­ge­streckt, bar­fuß und regungs­los in einem fla­chen höl­zer­nen Kas­ten. (S)ein Arm hängt über den vor­de­ren Rand. Am Fußen­de des Kas­tens ist ein schwe­res alt­ro­sa­far­bi­ges Tuch ausgebreitet.

Reflec­tions, Adi Boutrous/Foto: Efrat Mazor

Zu viel­stim­mi­gem spi­ri­tu­el­lem Chor­ge­sang erscheint ein wei­te­rer Mann, der völ­lig nackt ist, auf der dunk­len Büh­ne und begibt sich lang­sam zu dem ande­ren in dem Kas­ten. Er rollt ihn sacht aus die­sem her­aus und legt sich selbst hin­ein, bedeckt sich dabei mit dem Tuch. Die­ser Vor­gang wie­der­holt sich gleich dar­auf in umge­kehr­ter Rei­hen­fol­ge. Und nach die­ser Wie­der­ho­lung erschei­nen nach­ein­an­der zwei Frau­en in hell- und dun­kel­rot sam­te­nen Klei­dern und ein wei­te­rer Mann, der wie der ers­te geklei­det ist.

Die­se fünf­köp­fi­ge Grup­pe wird von nun an – erst paar­wei­se und dann fast nur noch zusam­men agie­rend – eine Sequenz  an die ande­re rei­hen. Man weiß nicht, was als nächs­tes geschieht, denn die Tänzer:innen, die eini­ge Zeit mit dem höl­zer­nen (Bett-)Kasten agie­ren, der sich dabei zur Tür, zum Sarg, zum Kreuz oder zum Berg wan­delt, fol­gen kei­ner sicht­ba­ren Intention.

Reflec­tions, Adi Boutrous/Foto: Efrat Mazor

Son­dern es fühlt sich an, als wür­den sie in stän­di­ger Kon­takt­im­pro­vi­sa­ti­on mit­ein­an­der inter­agie­ren. Ihr gemein­sa­mes Flie­ßen respek­ti­ve Tan­zen zeich­net sich durch Auf­stei­gen und Fal­len, Heben, Tra­gen und ein­an­der Stüt­zen aus.  Und es ist auf­fäl­lig, dass dies alles zwar kraft­voll aber nie aggres­siv geschieht. Die­se Per­for­mance lebt von voll­kom­me­ner und gleich­be­rech­tig­ter Zusam­men­ar­beit und der Abwe­sen­heit von Wider­stand oder Konkurrenz.

Sie ergießt sich wie ein, durch einen gemein­sa­men Atem beseel­ter Bil­der­strom, ergreift einen selbst und lässt den Ver­stand als unbrauch­ba­re Krü­cke zurück. Inspi­riert zu "Reflec­tions" wur­de Adi Bout­rous durch Wer­ke von Renais­sance- und Barock­ma­lern wie Rem­brandt, Cara­vag­gio und Bot­ti­cel­li, die als ers­te eine Rück­be­sin­nung auf bibli­sche und grie­chi­sche Tex­te ein­lei­te­ten. In der Farb­ge­bung sei­ner Kos­tü­me, der Anord­nung der Tän­ze­rin­nen in Grup­pen ist man an iko­ni­sche Moti­ve, wie die von  Kreu­zi­gung, Grab­le­gung oder Pie­ta erin­nert und kriegt die­se Per­for­mance den­noch nicht dar­über zu fassen.

Reflec­tions, Adi Boutrous/Foto: Efrat Mazor

Mit "Reflec­tions" stellt Bout­rous, der als ara­bi­scher Christ in Tel Aviv lebt, eine Ver­bin­dung zu einer Ver­gan­gen­heit her, in der das Schö­ne und das Gerech­te gleich­be­deu­tet waren. "Es geht nicht um ein The­ma," so der 33-Jäh­ri­ge,  "son­dern um eine Geis­tes­hal­tung, nach der Kunst das Gute im Men­schen stär­ken kann und soll­te." In "Reflec­tions" sind das ins­be­son­de­re Acht­sam­keit und Reso­nanz als fort­wäh­ren­de Prinzipien.

"Reflec­tions" ist dabei wie ein äuße­rer  far­bi­ger Bil­der­strom, der einen inne­ren Bewusst­seins­strom aus­löst, der wie­der­um den eige­nen Atem spür­ba­rer und gleich­zei­tig ent­spann­ter wer­den lässt. Es rührt an das eige­ne Ein­ver­ständ­nis mit "Stirb und wer­de". Ste­hen­de Ova­tio­nen und Bra­vo­ru­fe waren der Lohn für Adi Bout­rous und sei­ne gemein­sam mit ihm tan­zen­den vier sehr kon­zen­trier­ten Tänzer:innen, die im ver­gan­ge­nen Som­mer auch als Artists in Resi­dence in der fabrik zu Gast waren.

Astrid Priebs-Trö­ger

Die­ser Text erschien zuerst in den Pots­da­mer Neu­es­ten Nach­rich­ten vom 08.10.2023

09. Oktober 2023 von Textur-Buero
Kategorien: Allgemein, Tanz | Schlagwörter: , , , | Schreibe einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert