Verbindet Euch!
Drei Worte – Bruder, Grausamkeit und Stadt – sind im französischen Neologismus "Frérocité" miteinander verschmolzen. In Fabrice Ramalingoms gleichnamiger Performance, die in der fabrik ihre Deutschlandpremiere feierte, stößt man zuerst auf die Stadt.
Die fabrik-Bühne wirkt wie ein unbestimmter öffentlicher Raum, sie könnte eine Bauruine, eine Tiefgarage oder ein von hohen Wänden begrenzter Platz sein. Im Dunkeln kommt ein Mann mit einem Scheinwerfer durch einen seitlichen Schlitz und erkundet den Raum. Noch ist er allein und tanzt mit seinem Schattenriss auf den weißen Stellwänden.
Nach und nach folgen ihm weitere Individuen, die den Platz mit immer mehr Wasserkanistern, Müllsäcken, Klappleitern oder Radiorekordern zustellen. Sie kommen und gehen wie im berühmten Vorbild von Ramalingoms Performance, dem über 40 Jahre alten Avantgarde-Animationsfilm "Tango" von Zbigniew Rybczynski, der in einem (Wohn-)zimmer spielt. Nach und nach mutet der überfüllte Platz bei Ramalingom jetzt wie ein buntes Jugendcamp oder eine Ansammlung von Obdachlosen an.
Ihre Handlungsabläufe – das Bringen von immer noch mehr Dingen – beziehen sich zwar aufeinander, aber die Personen selbst haben nichts miteinander zu tun. Sie werden nur immer mehr, der Platz immer enger, die Luft zum Atmen buchstäblich immer dünner. Als das sinnlose Gewusel auf dem Höhepunkt scheint, erhebt sich plötzlich eine junge schwarze Frau im blauen Glitzerkleid aus der Menge und beginnt wie in einer Disko zu tanzen.
Die Masse – bis auf einen alten Mann, der am Rande sitzt – hat jetzt einen neuen, gemeinsamen Takt gefunden und wiegt sich in den ekstatischen Taumel. Die Beats, die ertönen, sind auch immer wieder mit Geräuschen wie aus Sportstadien, von Demonstrationen oder Sirenen überblendet. "Frérocité" entstand 2021 mitten in der Corona-Pandemie und den Demonstrationen gegen die Politik der Macron-Regierung. In der Musik von Pierre-Yves Macé verschmilzt alles miteinander.
Auch hier gibt es einen Höhepunkt, der die jetzt schreiende Menge in zwei Gruppen teilt. Eine davon kämpft vor einer weißen Wand (irgendwann wie in Zeitlupe) brutal Mann gegen Mann bis zur völligen Niederlage. Das könnte das Ende dieser rauen und dystopisch anmutenden Performance sein, bei der auch 16 Amateurtänzer:innen aus Potsdam mitwirkten.
Doch Fabrice Ramalingom, der sich in allen seiner Stücke mit der Frage des menschlichen Zusammenlebens beschäftigt, lässt die verwundeten Krieger:innen langsam von der Bildfläche verschwinden und jenen alten Mann (wunderbar: der 70jährige Jean Rochereau) wieder erscheinen. Der nun wieder ganz allein mit seinem Schatten tanzt, den dunklen leeren Raum erneut ausleuchtet und schließlich doch in Richtung der Anderen verschwindet.
Diese stille Botschaft, die an das Erbe der französischen Revolution von 1789 erinnert, wird nicht postuliert, sondern sie entsteht im Nachhinein im Publikum selbst. Verbindet Euch! Mit Euch selbst, mit anderen, mit der Erde. Übernehmt (endlich) Verantwortung für das eigene Tun und Lassen in dieser von multipolaren Krisen und Kriegen gebeutelten Welt.
Astrid Priebs-Tröger