Vom L(i)eben und Sterben
Was für ein Abend! Gleich zweimal ging es am dritten Festivaltag ums Leben, Lieben und Sterben. Und zwar in sehr unterschiedlich temperierter Art und Weise.
Das Bewegungstheaterduo Djalma Primordial Science aus Frankreich lud zu seiner Deutschlandpremiere von "Die Hände von l´Argentiére" in die Schinkelhalle ein.
Dort lag auf einer weiß ausgeschlagenen Bühne ein Mann auf einem weißbezogenen Bett – mit einem Akkordeon auf dem Bauch. Ganz still war es und erst langsam hörte man, dass aus diesem Instrument Luft entwich. Das klang beinahe wie Meeresrauschen oder geräuschvolles Atmen des Mannes.
Diese poetische Mehrdeutigkeit zog sich von Anfang an wie ein roter Faden durch die eher stille, wie aus Vexierbildern gemachte Inszenierung. Ephia Gburek und Vincent Valente wechseln darin oft und beinahe nahtlos die Rollen.
Am Anfang liegt er im Krankenzimmer, stirbt schließlich, als sein Akkordeon von seinem Bauch und er vom Bett rutscht. Dem Instrument entweicht – jetzt ist er gleichzeitig wieder Spieler – ein langer, fast sakraler Klageton, der Trauer fühlbar macht.
Die Krankenzimmerszenerien dauern an, auch hier ist die Frau zumeist in der Rolle der L(i)ebenden oder Pflegenden und er derjenige, der dem Ende seines Lebens entgegengeht. Die beiden wie in Zeitlupe agierenden Performer: innen waren für "Die Hände von l´Argentiére" in Alten- und Pflegeheimen und haben den Menschen dort beim Sterben zugesehen. Und beobachteten sehr genau, wieviel Leben bei ihnen noch anzutreffen ist.
Sie finden berührende Bilder, Töne und Worte – die als Übertitel erscheinen – die die besondere Atmosphäre am Lebensende einfühlsam und blitzlichtartig spiegeln. Und schließlich auch ein metaphorisches Bild für das allgemeine Werden und Vergehen. Dies ist allerdings eine Videoprojektion in der ansonsten wunderbar analogen und wie aus der Zeit gefallenen, intensiven Inszenierung.
Die Anfangssituation in "KAR" von Fekete Seretlek & Studio Damúza aus Tschechien ist eigentlich fast dieselbe. Auch hier liegt ein Mann mit einem Akkordeon auf dem Bauch, diesmal nicht im Krankenbett, sondern auf einem hohen schmalen Tisch, der im Potsdamer Waschhaus steht.
Als Besucher:in bekommt man am Eingang flackernde Grablichter in die Hand gedrückt, die zu Füßen des Sterbenden aufgestellt werden. Doch schon dabei bemerkt man, dass in dem langen Kerl, der wie die tschechische Version des Struwwelpeter aussieht, noch sehr viel Leben steckt und das er das Sterben ganz einfach (immer wieder) auf morgen verschiebt.
Und damit die Zeit bis zum Ende intensiv und vor allem lustvoll ist, spielen die vier schwarz gekleideten Männer gleich mal und immer wieder mit ihren Saiteninstrumenten und einem Gong kräftig auf. Sie trinken gemeinsam mit dem Publikum Wodka und Tee, veranstalten mit dickwandigen Gläsern, einem rauchenden Samowar und dem Sektkühler, die sie unter dem langen Tisch hervorholen und der damit zur Theke wird, u. a. sehr skurrile Tänze.
Bis sich eine Frau im edlen Pelzcape und weißem Spitzenkleid zu ihnen gesellt und sich als eine der berühmtesten Leichen der Weltliteratur erweist. Anna Karenina, die sich wegen ihrer Liebesaffäre mit dem Grafen Alexej Wronskij, die zum Bruch ihrer Ehe führt, schließlich – die Handlung spielt im 19. Jahrhundert – vor einen Zug wirft.
Doch auch in ihr und vor allem in den spielfreudigen Musikanten (zu denen sie gehört) steckt noch sehr viel Liebe zum Leben und so endet der berühmte Roman in der großartigen "KAR"-Version nicht mit einem Suizid, sondern berührendem tschechischem, jüdischem und russischem Gesang und viel osteuropäischer Seele, die wesentlich blutvoller als die hierzulande, auch ungleich spielfreudiger ist und bei der der Funke wie von selbst überspringt.
Es war eine Wonne, dieser musikkabarettistischen Toten- bzw. Lebensfeier beizuwohnen und sich selbst gleich viel lebendiger zu fühlen. Danke Anička Bubníková, Jiří N. Jelínek, Pavol Smolárik, Matija Solce und Ivo Sedláček für dieses wunderbare Unidram-Erlebnis. Großartig auch, wie Gevatter Tod mit einer schwingenden Sense auf dem brennenden Tisch zwischen den umherfahrenden Spielzeuglokomotiven tanzt.
Astrid Priebs-Tröger