Willy Brandts Tränen
Ein Foto sticht aus allen heraus. Es zeigt die emotionale Ergriffenheit Willy Brandts anlässlich der deutschen Wiedervereinigung. Der Potsdamer Fotografin Monika Schulz-Fieguth gelang diese überaus eindringliche Momentaufnahme. Sie sie ist Teil der Ausstellung "Carpe diem", die noch bis zum 6. April in der ae-Galerie zu sehen ist.
Galeristin Angelika Euchner hat diesmal hauptsächlich ostdeutsche Fotograf:innen versammelt, die in über drei Dutzend vor allem schwarz-weiß Fotografien weitere "einmalige Momente" festgehalten haben.
Es sind ganz private darunter, wie die Aufnahme von Peter Frenkel "Dreifaches Glück", das den Großvater und seine Enkel 2022 gemeinsam auf der Wiese liegend zeigt oder weltgeschichtlich bedeutsame, wie die von Monika Schulz-Fieguth, der es auch gelang, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, eine Begegnung zwischen Michail Gorbatschow und Angela Merkel in der Villa Schöningen festzuhalten.
In diesem Spannungsfeld von privat und gesellschaftlich wird man auf eine ungemein vielfältige und berührende Reise mitgenommen, die Ende der 1970er Jahre im ländlichen ostdeutschen Raum mit Kinder-Fotografien von Thomas Kläber beginnt und ihren Bogen bis zum gegenwärtigen Ukrainekrieg und einem dazu passenden Demonstrationsfoto von 2022 von Harald Hirsch schlägt.
Breiten Raum nimmt die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten ein. Neben Willy Brandts Tränen kann man in einer Dreierserie von Klaus D. Fahlbusch im Untergeschoss der Galerie einen geschleiften Grenzwachturm, den "letzten Kaffee für DDR-Mark" und den Rückreisestau aus Westberlin sehen. Wirklich einmalige Momente von Zeitzeug:innen festgehalten, die auch 30 Jahre später noch Gänsehaut erzeugen können.
Auch die Bilder von Susanne Müller streifen diesen Zeitraum; in ihrer Männer-Serie Ende der 90er Jahre zeigt sie ganz private Innenräume und Selbst-Inszenierungen alleinstehender Männer aus dieser gesellschaftlichen und privaten Umbruchszeit.
Michael Lüder hingegen hat im vergangenen Jahr Potsdamer 60-Jährige porträtiert, die in ihren Selbstreflexionen, die neben den Bildern hängen, eine sehr persönliche Bilanz ziehen. Und die aufgrund ihrer Lebensspanne genau diesen Zeitraum widerspiegeln, den auch die Ausstellung abbildet.
Die Potsdamer ae-Galerie ist die einzige der Landeshauptstadt, die am diesjährigen 10. Berliner Festival EMOP als Teil des European Month of Photography mit einhundert Ausstellungen teilnimmt.
Die versammelten Fotografien stammen von fünf Frauen und neun Männern und sie wurden von den Kurator:innen Angelika Euchner, Michael Lüder und Mathias Marx zu einem der diesjährigen EMOP-Leitthemen, nämlich "Touch" ausgewählt.
Berührung meint dabei natürlich nicht nur die des Betrachters, sondern auch die Berührung der Fotografien untereinander, was nachdrücklich gelingt und immer wieder auch dazu einlädt, über den berühmten eigenen Tellerrand zu blicken.
Das tut u. a. Barbara Thieme mit ihren farbigen Frauenporträts aus Gambia oder Thomas Kummerow, der mit "Ousmane L." ein Porträt von Menschen beisteuert, die in Deutschland ein neues Zuhause gefunden haben. Wie auch Jürgen Matschie, der eine Osterprozession – eines der wenigen Farbbilder – in Spanien fotografierte.
"Carpe diem" versammelt so sehr unterschiedliche Fotograf:innenhandschriften und macht Lust darauf, beispielsweise Thomas Kläber mit seinen dokumentarischen Langzeit-Aufnahmen aus dem ländlichen ostdeutschen Raum Anfang der 2000er Jahre näher kennenzulernen und in einer Einzelausstellung in Potsdam zu erleben.
Seine Serie "Am Ende der Zeit" über die letzten Lebensjahre der Drogistin Annemarie Jatzlauk berührt ebenso wie die überaus sensible Aufnahme der Sterbestunde von Peter Herrmann (2009) von Monika Schulz-Fieguth, die beide im Souterrain gehängt sind.
Astrid Priebs-Tröger