Willy Brandts Tränen

Ein Foto sticht aus allen her­aus. Es zeigt die emo­tio­na­le Ergrif­fen­heit Wil­ly Brandts anläss­lich der deut­schen Wie­der­ver­ei­ni­gung. Der Pots­da­mer Foto­gra­fin Moni­ka Schulz-Fie­guth gelang die­se über­aus ein­dring­li­che Moment­auf­nah­me. Sie sie ist Teil der Aus­stel­lung "Car­pe diem", die noch bis zum 6. April in der ae-Gale­rie zu sehen ist.

Gale­ris­tin Ange­li­ka Euch­ner hat dies­mal haupt­säch­lich ost­deut­sche Fotograf:innen ver­sam­melt, die in über drei Dut­zend vor allem schwarz-weiß Foto­gra­fien wei­te­re "ein­ma­li­ge Momen­te" fest­ge­hal­ten haben.

Wil­ly Brandt auf der Ter­ras­se des Reichs­tags, Ber­lin 2./3. Okto­ber 1990, Foto: Moni­ka Schulz-Fieguth

Es sind ganz pri­va­te dar­un­ter, wie die  Auf­nah­me von Peter Fren­kel "Drei­fa­ches Glück", das den Groß­va­ter und sei­ne Enkel 2022 gemein­sam auf der Wie­se lie­gend zeigt oder welt­ge­schicht­lich bedeut­sa­me, wie die von Moni­ka Schulz-Fie­guth, der es auch gelang, zwan­zig Jah­re nach dem Mau­er­fall, eine Begeg­nung zwi­schen Michail Gor­bat­schow und Ange­la Mer­kel in der Vil­la Schö­nin­gen festzuhalten.

In die­sem Span­nungs­feld von pri­vat und gesell­schaft­lich wird man auf eine unge­mein viel­fäl­ti­ge und berüh­ren­de Rei­se mit­ge­nom­men, die Ende der 1970er Jah­re im länd­li­chen ost­deut­schen Raum mit  Kin­der-Foto­gra­fien von Tho­mas Klä­ber beginnt und ihren Bogen bis zum gegen­wär­ti­gen Ukrai­ne­krieg und einem dazu pas­sen­den Demons­tra­ti­ons­fo­to von 2022 von Harald Hirsch schlägt.

Peter Herr­mann mit sei­ner Frau wäh­rend sei­ner Ster­be­stun­de, 4. Okto­ber 2009, Foto: Moni­ka Schulz-Fieguth

Brei­ten Raum nimmt die Wie­der­ver­ei­ni­gung bei­der deut­scher Staa­ten ein. Neben Wil­ly Brandts Trä­nen kann man in einer Drei­er­se­rie von Klaus D. Fahl­busch im Unter­ge­schoss der Gale­rie einen geschleif­ten Grenz­wach­turm, den "letz­ten Kaf­fee für DDR-Mark" und den Rück­rei­se­stau aus West­ber­lin sehen. Wirk­lich ein­ma­li­ge Momen­te von Zeitzeug:innen fest­ge­hal­ten, die auch 30 Jah­re spä­ter noch Gän­se­haut erzeu­gen können.

Auch die Bil­der von Susan­ne Mül­ler strei­fen die­sen Zeit­raum; in ihrer Män­ner-Serie Ende der 90er Jah­re zeigt sie ganz pri­va­te Innen­räu­me und Selbst-Insze­nie­run­gen allein­ste­hen­der Män­ner aus die­ser gesell­schaft­li­chen und pri­va­ten Umbruchszeit.

Sam­meln zur Grün­don­ners­tags­pro­zes­si­on, Ube­da, 2011, Foto: Jür­gen Matschie

Micha­el Lüder hin­ge­gen hat im ver­gan­ge­nen Jahr Pots­da­mer 60-Jäh­ri­ge por­trä­tiert, die in ihren Selbst­re­fle­xio­nen, die neben den Bil­dern hän­gen, eine sehr per­sön­li­che Bilanz zie­hen. Und die auf­grund ihrer Lebens­span­ne genau die­sen Zeit­raum wider­spie­geln, den auch die Aus­stel­lung abbildet.

Die Pots­da­mer ae-Gale­rie ist die ein­zi­ge der Lan­des­haupt­stadt, die am dies­jäh­ri­gen 10. Ber­li­ner Fes­ti­val EMOP  als Teil des Euro­pean Month of Pho­to­gra­phy mit ein­hun­dert Aus­stel­lun­gen teilnimmt.

Die  ver­sam­mel­ten Foto­gra­fien stam­men  von  fünf Frau­en und neun Män­nern und sie wur­den von den Kurator:innen Ange­li­ka Euch­ner, Micha­el Lüder und Mathi­as Marx zu einem der dies­jäh­ri­gen  EMOP-Leit­the­men, näm­lich "Touch" ausgewählt.

Die letz­ten Jah­re aus dem Leben der Dro­gis­tin Anne­ma­rie Jatzlauk, Foto: Tho­mas Kläber

Berüh­rung meint dabei natür­lich nicht nur die des Betrach­ters, son­dern auch die Berüh­rung der Foto­gra­fien unter­ein­an­der, was nach­drück­lich gelingt und immer wie­der auch dazu ein­lädt, über den berühm­ten eige­nen Tel­ler­rand zu blicken.

Das tut u. a. Bar­ba­ra Thie­me mit ihren far­bi­gen Frau­en­por­träts aus Gam­bia oder Tho­mas Kum­me­row, der mit "Ous­ma­ne L." ein Por­trät von Men­schen bei­steu­ert, die in Deutsch­land ein neu­es Zuhau­se gefun­den haben. Wie auch Jür­gen Mat­schie, der eine Oster­pro­zes­si­on – eines der weni­gen Farb­bil­der – in Spa­ni­en fotografierte.

"Car­pe diem" ver­sam­melt so sehr unter­schied­li­che Fotograf:innenhandschriften und macht Lust dar­auf, bei­spiels­wei­se Tho­mas Klä­ber mit sei­nen doku­men­ta­ri­schen Lang­zeit-Auf­nah­men aus dem länd­li­chen ost­deut­schen Raum Anfang der 2000er Jah­re näher ken­nen­zu­ler­nen und in einer Ein­zel­aus­stel­lung in Pots­dam zu erleben.

Sei­ne Serie "Am Ende der Zeit" über die letz­ten Lebens­jah­re der Dro­gis­tin Anne­ma­rie Jatzlauk berührt eben­so wie die über­aus sen­si­ble Auf­nah­me der Ster­be­stun­de von Peter Herr­mann (2009) von Moni­ka Schulz-Fie­guth, die bei­de im Sou­ter­rain gehängt sind.

Astrid Priebs-Trö­ger

24. März 2023 von Textur-Buero
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