Fressen und Glotzen
"Herzlich Willkommen! Die Besuchszeit beginnt nun!" – so lud am 2. Unidram-Tag eine Puppe mit hoher piepsiger Stimme ins Kesselhaus ein. Drinnen im warmen hellen Raum wartete außerdem auf jede*n ein Becher Popcorn. Die Animateurin mit lila Tüllrock überschlug sich fast vor guter Laune und lud das Publikum zum Klatschen und Fotografieren ein.
Doch die Puppenspieler, die in grauen Gummianzügen steckten und ihre Gesichter hinter ebensolchen Masken verbargen, störten diesen Rundum-Wohlfühl-Eindruck. Und noch mehr stutzte ich, als das Girl sagte, dass jetzt von ihr ein "letztes Foto" zu schießen sei.
Ariel Doron, der 2015 mit "Plastic Heroes" bei Unidram zu Gast war, unternimmt auch in "Besuchszeit vorbei" den Versuch, Erfahrungen von Gewalt fühlbar zu machen. Nur sitzen die Besucher* innen diesmal nicht im Zuschauerraum, sondern befinden sich inmitten einer makabren Szenerie.
Erfahrungen von Gewalt fühlbar machen
Denn die überdrehte Animateurin wird als erstes ohne Ankündigung von einem der beiden hohen Podeste, die sich an den Stirnseiten des Theaterraumes befinden, gestürzt. Ihr folgen stumm und in kurzem Abstand ein Junge mit roten Haaren, ein alter dicker Mann, eine ältere Kokotte. Von einem Mädchen mit Mongolismus hält der uniformierte Puppenspieler schließlich nur noch triumphierend den Kopf in der Hand.
Eine Klappmaulpuppe schreit kurz darauf markerschütternd, drei Sperrholzpuppen marschieren auf, was fast wie Beifall klingt. Und selbst als die sich heftig wehrenden Zwillingsjungen mit weit aufgerissenen Augen auf den Boden klatschen, verhalten sich Viele im Publikum seltsam ungerührt.
"Es waren doch nur Puppen und Theater", höre ich nach der Vorstellung oft. Doch nachdem ein – sehr lebensechter – kleiner Junge seinem Peiniger und dem Publikum sekundenlang ins Gesicht sieht, hält es eine ältere Dame nicht mehr aus. Sie fängt das abstürzende Puppenkind auf und hält es fest im Arm. Als ich zu ihr gehe, um ihr zu danken, wischt sie sich Tränen aus den Augen.
Das ist der Durchbruch in der anhaltend beklemmenden Szenerie. Jetzt fangen auch andere Zuschauer*innen an, den Uniformierten in den Arm zu fallen, Katzen- und weitere Kinderpuppen aufzufangen. Doch manche stehen nach wie vor mit verschränkten Armen da und lassen sich noch kurz vor dem Kasperle-Tod zum kollektiven Tritratrallala-Gesang verführen.
Die moderne Unterhaltungsindustrie wird vorgeführt
Und: Es geht noch schlimmer. Die Uniformierten machen Pause und verteilen Mohrrüben. Und es gibt nicht wenige, die weiter ungerührt fressen und glotzen.
So pointiert sarkastisch ist die moderne Unterhaltungsindustrie lange nicht vorgeführt worden. Auch Gruppenzwänge werden thematisiert. Und es ist, nachdem was passiert ist, und sich ein Puppenleichenberg im Zentrum türmt, eigentlich unverständlich, dass sich immer noch einzelne Hände heben, als wie in einer Castingshow darüber abzustimmen ist, welcher von den fünf Kandidaten getötet werden soll.
Auch da höre ich später Ausflüchte wie "Ich wusste doch nicht, ob ich dafür oder dagegen stimme." Herrgott nochmal, wer ermächtigt uns eigentlich Herr über Leben und Tod zu sein? Sollten nicht in unserem (deutschen) kollektiven Unterbewusstsein sofort die eingebrannten Holocaust-Bilder aufflammen, um solche Entscheidungen ein für alle Mal konsequent zu verweigern? Der Israeli Ariel Doron hält nicht nur uns mit "Besuchszeit vorbei" unmissverständlich einen Spiegel vor.
Die Verwüstung beginnt vor dem Krieg
Mir kam danach wieder siedendheiß ein Satz in den Sinn, den ich 2016 in der Inszenierung "Lichtung" vom O‑Team Stuttgart gehört habe: Die (eigentliche) Verwüstung beginnt vor dem Krieg.
Astrid Priebs-Tröger
P.S. Die Dame, die den kleinen Jungen rettete, war übrigens der deutschen Sprache nicht mächtig. Sie war lediglich ihrem Herzen gefolgt.