Das Netz, in dem wir hängen

"Hoff­nung macht, dass die Welt sich dreht" oder "Die Hoff­nung stirbt zuletzt" – schon die­se bei­den Zita­te zei­gen, wie tief der Begriff Hoff­nung in der mensch­li­chen Gesell­schaft ver­an­kert ist. Sie ist auch eine der drei christ­li­chen Tugen­den und besitzt im Deut­schen einen posi­ti­ven Sinn.

HOPE/LESS heißt das Stück der Mün­che­ner Cho­reo­gra­fin Anna Kon­jetz­ky, die damit in der Pots­da­mer fabrik zu Gast war.

Im Zen­trum der Büh­ne und der Cho­reo­gra­fie steht ein Metall­ge­rüst, das auf vier Säu­len gestützt ist. Zwi­schen ihnen ist in über zwei Meter Höhe ein elas­ti­sches Netz aus schwar­zen Gur­ten mit gro­ßen Zwi­schen­räu­men gespannt.

HopeLess_ © Gabrie­la Neeb

Nach und nach klet­tern die vier Tänzer:innen in die­ses Netz und bewe­gen sich wie in Zeit­lu­pe dar­in. Es ist ihnen unmög­lich, dar­in auf­recht zu ste­hen und sie müs­sen auf­pas­sen, nicht zwi­schen den gro­ben Maschen hin­durch zu rut­schen. Ein tref­fen­de­res Bild für unser Netz des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halts lässt sich kaum finden.

Mann bzw. Frau braucht viel Geschick­lich­keit und Kraft, auf/in die­sem schwan­ken­den Gebil­de zu blei­ben und alle arbei­ten dar­an, nicht her­aus­zu­fal­len. Auf den Gedan­ken, sich ein­fach hin­ein zu legen und ganz still zu sein, kommt keine:r von ihnen. Auch das ist eine pas­sen­de Meta­pher für den Zustand unse­rer west­li­chen Gesellschaften.

HopeLess_ © Gabrie­la Neeb

Denn die, die (noch) da oben sind, befin­den sich im Zustand der Hoff­nung. Das bedeu­tet, dass man etwas in der Zukunft erwar­tet, ohne zu wis­sen, ob es ein­tritt. Und auch für die, die "unten sind" ist Hoff­nung eine star­ke mensch­li­che Trieb­fe­der. Sie hebt uns aus dem Tier­reich her­aus. Denn Tie­re hof­fen nicht, sie sind ein­fach nur. Jeden Augen­blick ihres Lebens.

Es kommt, was kom­men muss. In HOPE/LESS fällt eine:r nach dem ande­ren aus dem Netz, das kei­ne Hän­ge­mat­te ist, her­aus und ver­sucht, ziem­lich schnell, wie­der nach oben zu gelan­gen. Meist gelingt das nur, in dem ihm von unten eine:r (frei­wil­lig) hilft, oder die Aufsteiger:innen auf die, die unten sind, treten.

HopeLess_ © Gabrie­la Neeb

Im wei­te­ren Ver­lauf der inten­si­ven Per­for­mance mit Daph­na Horen­c­zyk, Sahra Hoby, Ouin­dell Orton und Jascha Vieh­städt lan­den alle auf dem Boden. Mit zumeist geschlos­se­nen Augen ver­su­chen sie, das unge­wohn­te Ter­rain unter sich und auch ihre eige­nen neu­en Bewe­gungs­mög­lich­kei­ten zu erkun­den. Doch eine neue Sicher­heit stellt sich für sie dabei nicht ein.

Immer wie­der zieht es sie in die gewohn­ten Struk­tu­ren zurück, sie klet­tern erneut auf dem Gerüst her­um, lan­den aber­mals im Netz und auch wie­der unten, doch anschei­nend wollen/können sie die ver­meint­li­chen Sicher­hei­ten und mani­fes­tier­ten Gedan­ken­mus­ter nicht aufgeben.

HOPE/LESS ent­stand im Herbst 2022 – in einer Zeit, die mit dem Begriff der "Zei­ten­wen­de" mar­kiert wur­de. In einer Situa­ti­on, in der vie­le (bis­he­ri­ge) Sicher­hei­ten für vie­le hin­weg gefegt wur­den und mul­ti­per­spek­ti­vi­sche Kri­sen das mensch­li­che Zusam­men­le­ben dras­tisch ver­än­dern. Mit­ten in Euro­pa. Und gleich­zei­tig weltweit.

Soll­te man also alle Hoff­nung fah­ren las­sen? Oder an einer neu­en (gesell­schaft­li­chen) Uto­pie arbei­ten? Anna Kon­jetz­kys ein­drück­li­che Per­for­mance gibt dar­auf kei­ne Ant­wort. Sie zeigt vor allem, wie schwie­rig es ist, sich zwi­schen Behar­ren und Los­las­sen, zwi­schen ver­meint­li­cher Sicher­heit und unge­wohn­ter Frei­heit zu entscheiden.

Über meh­re­re Etap­pen gerät das Metall­ge­rüst dann doch ins Wan­ken bezie­hungs­wei­se ins Rotie­ren; es ver­schwin­det auch für kur­ze Zeit aus dem Büh­nen­zen­trum. Doch Raum für etwas wirk­lich ande­res ist da (noch) nicht. Ich hät­te es gern ein­stür­zen und die Tänzer:innen – stell­ver­tre­tend für uns alle – an neu­en Bezie­hun­gen unter­ein­an­der "arbei­ten" sehen. Also, mit­ein­an­der ein wirk­li­ches sozia­les Netz zu knüp­fen, von dem auch Schwä­che, Angst, Wut und Lee­re der Ein­zel­nen auf­ge­fan­gen werden.

Aber wahr­schein­lich ist auch das schon wie­der viel zu viel Hoff­nung und zudem ein Stre­ben nach Effi­zi­enz (Wirk­sam­keit), das die­ser Gesell­schaft imma­nent ist. Hoff­nungs­lo­sig­keit – im Sin­ne von die Din­ge gesche­hen las­sen – ist jeden­falls "oben" nicht erlaubt und wird aller­höchs­tens im Zen-Semi­nar in der knap­pen Frei­zeit zugelassen.

Astrid Priebs-Trö­ger

Die Arbeit an die­sem Arti­kel wur­de "geför­dert durch die Beauf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung für Kul­tur und Medi­en im Pro­gramm NEUSTART KULTUR, Hilfs­pro­gramm DIS-TANZEN des Dach­ver­band Tanz Deutsch­land."

07. Mai 2023 von Textur-Buero
Kategorien: Alltagskultur, Tanz | Schlagwörter: , , , , | Schreibe einen Kommentar

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