Ganz (Körper) sein
"Erleben Sie das Stück, indem Sie die analytische Kategorisierung in der Garderobe lassen und den Weg für eine sinnliche Erfahrung öffnen: die eines Raums, in dem sich Wesen und Dinge ständig verwandeln können."
Dies quasi als Gebrauchsanweisung vorweg zu schicken, ist hilfreich bei Daina Ashbees neuestem Stück "J’ai pleuré avec les chiens (TIME, CREATION, DESTRUCTION)", das bei den Tanztagen seine Deutschlandpremiere feierte. Die erste Verwandlung beginnt schon während des Einlasses. Immer wieder bewegen sich einzelne der Performer:innen auf allen Vieren durch die Arena.
Kurz bevor alle Zuschauer:innen auf ihren Plätzen sitzen, beginnen sie sich zu entkleiden, um von nun an nackt durch den Raum zu gleiten. Wie eine menschliche Herde bewegen sie sich jede:r für sich aber im gleichen gemächlichen Tempo, anfangs stumm durch das Geviert.
Dazu wird ein englischer Text von Louise Hay, einer Vertreterin der Neugeist-Bewegung eingesprochen, der u. a. die Sätze wie "Wir kreieren alle Erfahrungen in unserem Leben selbst" und "Was ich über das Leben glaube, wird wahr für mich" enthält.
"J’ai pleuré avec les chiens" ist während der Corona-Pandemie entstanden und begann für Daina Ashbee mit der Erforschung eines Gefühls: Trost in der Umarmung eines Hundes zu suchen. Etwas, das sicher viele nachvollziehen können, die aufgrund der Isolation oder der Verzweiflung darüber die Wärme und die Ruhe von jemand anderem Lebendigen suchten.
Im Verlauf der sehr puren und ungemein intensiven Performance, die von fünf Frauen und einem Mann bestritten wird, werden diese immer stärker ihre kreatürlichen Energien ausleben. Atmen, Bewegen, Schwitzen, Klettern, Jaulen, Schreien, Bellen, Tönen – das Menschsein ist reduziert auf das Wesentliche.
Ganz Körper sein – etwas, das die Meisten von uns durch die vorherrschende Kultivierung verloren haben. Und höchstens in existenziell bedrohlichen Situationen wie Krankheit, Geburt oder Sterben wieder erfahren. In dieser Performance sehen Menschen sich Menschen an, die beinahe wie in einem Zoo vor ihnen ausgestellt sind.
Und doch ist es anders als dort, da wir bei Ashbee uns selbst sehen. In unserer Schönheit, in der Zerbrechlichkeit oder Schwäche. Auch im Funktionieren oder Versagen, die "dunkelsten Ecken" (wie die Vulva) werden für manche(n) vielleicht zum ersten Mal sichtbar. Und man/frau muss sich trauen, auch genau hinzusehen.
Dualismen wie männlich/weiblich, Natur und Kultur interessieren die junge kanadische Choreografin nicht. Stattdessen geht es ihr um eine Neukonfiguration des Sinnlichen. Und um Antikolonialismus, der die Welt, die Menschen, die Kunst nicht kategorisieren, zur Ware machen, besitzen und/oder ausbeuten will.
So ist die völlige Abwesenheit von Hierarchien, Streit oder Kampf in dieser Gruppe äußerst bemerkenswert; diese sonst so scheinbar "normalen" Kategorien werden bei Daina Ashbee nicht (mehr) auf dem Theater reproduziert. Stattdessen sehen wir Präsenz und Hingabe, Achtsamkeit und Vertrauen – in den immer wieder praktizierten akrobatischen Paarübungen – letztlich pures körperliches Sein.
Was für eine Herausforderung, was für eine Chance, unser Menschsein (so) anders zu denken und zu fühlen. Und sich mit allem Lebendigen vereint zu fühlen, als Voraussetzung, um andere(s) um unseres Profits willen nicht (mehr) auszurotten.
Wie sehr sich diese wunderbaren Performer: innen in diesen sechzig Minuten von uns entfernt und sich unserer kreatürlichen Natur genähert hatten, war zu spüren, als sie sich am Ende wieder bekleidet verbeugten und dabei wie verkleidet wirkten.
Allerdings konterkariert die Choreografin ihre hehren Absichten selbst, wenn am zweiten Abend die Performer:innen, die vorwiegend aus Mexiko bzw. Venezuela stammen, mit zerschundenen, z. T. blutenden Knieen von der Bühne gehen.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, [Hilfsprogramm DIS-TANZEN/ tanz:digital/ DIS-TANZ-START] des Dachverband Tanz Deutschland."