Höher, schneller, weiter?
Mit Maschinengeräuschen, zersplitternden Melonen und Ball-Jonglage überraschten die Potsdamer Tanztage an ihrem letzten Abend. Nach fast vierzehn Tagen mit ungemein kontrastreichem Programm, das mit dem hochenergetischem Prolog "Le Grand Continental" im Lustgarten begann, feierten sie ihr tropisch heißes Finale zwischen Waschhaus-Arena, fabrik und T‑Werk.
Tropisch heißes Finale
Den Abschlussabend eröffnete "Con Grazia" von Martin Messier und Anne Theriault aus Montreal, die in ihrer von elektronischen Klängen und mechanischen Robotern getriebenen Performance diverse Objekte zertrümmerten. Mit Gummi‑, Holz- oder Zimmermannshämmern und Schutzbrillen bewaffnet, schlugen Theriault und Messier anfangs auf ballgroße Glaskugeln oder rote Weihnachtskugeln, später auf reife Äpfel, Paprika und Melonen ein.
Die dabei live erzeugten Geräusche übertrugen sich über Tische, die die Geräusche abnahmen und/oder verstärkten, in die im Vorhinein erzeugte elektronische Partitur von Martin Messier, die die vorwiegend im Zwielicht stattfindende Objekt-Choreografie organisierte und steuerte. Der kanadische Komponist und Videokünstler versucht in seinen Performances mit Alltagsgegenständen und erfundenen Maschinen, diesen das Wort erteilen und die hierarchische Beziehung zwischen Musik und Choreografie umzukehren.
Maschinengetriebene (Objekt-)Performance
In "Con Grazia" gelingt dies auf manchmal alptraumhaft verstörende Weise – wie in der Sequenz, als die Performer mit Baseballschlägern roh klatschend auf Quader und Würfel einschlagen. Oder wenig später in einer live gefilmten Videosequenz lustvoll brutal eine reife Tomate penetrieren. Den beiden Porzellantassen, einem Sahnekännchen und der Zuckerdose geschieht indes kein Leid. Das Geschirr vollführt, gelenkt von den gleichförmig mechanischen Bewegungen von vier Roboterarmen, einen klirrend graziösen, fast klassisch anmutenden Tanz.
Menschliche Handarbeit war dagegen die Abschlussaufführung des letzten Festival-Abends "Humanoptere" von Clément Dazin aus Straßburg. Doch auch hier jonglieren die sechs Männer anfangs zu mechanisch vorwärtstreibenden Maschinenklängen. Was direkte Auswirkungen auf ihre jahrtausendealte elegante Bewegungskunst hat. Besonders eindrücklich zu spüren in der Szene, als die sechs, jeder in einem Lichtquadrat wie an einem Schreibtisch sitzend, im Takt der enervierenden Tonspur stakkatoartig ihre kleinen weißen Bälle kurz kreisen und dann im gleichen Takt abrupt und sehr hart auf den Boden fallen lassen.
Parallelen zur modernen Arbeitswelt
Die Maschinen-Szenen aus Chaplins Film "Moderne Zeiten" kamen einem da sofort in den Sinn. Dazin zieht in "Humanoptere" (deutsch: Menschenopfer) durchaus diese Parallelen zur modernen Arbeitswelt. In der der Einzelne oft ungemein waghalsig jonglieren muss, um für sich und gegen die Anderen im Team zu bestehen. Wer versagt, wird – auch in Dazins Inszenierung – gnadenlos aussortiert.
Aber ist dieses ewige "Schneller, Höher, Weiter" überhaupt noch menschen- und zeitgemäß? In einer Welt, in der die natürlichen Ressourcen erschreckend schnell zur Neige gehen und immer mehr Menschen im Burnout enden. Dazin zeigt in seiner lange nachwirkenden Inszenierung auch Alternativen.
Seine Männer, die freiwillig und ungemein kreativ in einer, ihrer Gruppe zusammenwirken, besitzen nicht nur eine sehr unterschiedlich ausgeprägte Rückenmuskulatur, sondern auch sehr individuelle artistische Fähigkeiten, die sie auch einzeln im Scheinwerferlicht blitzlichtartig präsentieren dürfen.
Alternativen und gesellschaftspolitischer Bezug
Dazin zeigt, wie es schon Marx und Engels im "Kommunistischen Manifest" proklamierten, dass die Freiheit des Einzelnen die Voraussetzung für die Freiheit aller ist. Wunderbar, wie sich selbstständige Individuen, die ihren eigenen Impulsen folgen und offen füreinander sind, in einer Gruppe gegenseitig ergänzen und einander verstärken können!
Wie gut, dass die Macher der Potsdamer Tanztage bei den eingeladenen Inszenierungen immer wieder einen solchen gesellschaftspolitischen Bezug suchen und sich gerade dieses Festival nicht an "reiner" Kunst abarbeitet. Über 7.500, zumeist begeisterte Besucher waren 2018 der Lohn dafür.
Astrid Priebs-Tröger