Kurze Formen
Es war großartig, wie Lia Rodrigues in "Formas Breves" die Ideen Oskar Schlemmers am zweiten Tag der 29. Potsdamer Tanztage konsequent in zeitgenössischen modernen Tanz übersetzte. Sie brauchte dazu keine ausladenden geometrischen Kostüme, sondern ausschließlich sehr unterschiedliche (nackte) Körper, wechselndes Licht und transparentes Klebeband.
"Formas Breves" der brasilianischen Choreografin war nach dem "Triadischen Ballett" – einer Rekonstruktion von 1977 – aus München die zweite Inszenierung, die Bezug auf die Ideen des Bauhauses und Schlemmers berühmten Ballett nahm. Doch welch ein Unterschied zwischen beiden! Während die Deutschen, die in die Ikonografie der Kunstgeschichte eingegangenen Kostüme in den Vordergrund ihrer insgesamt braven Inszenierung stellten, widmete sich die Brasilianerin der – damals wie heute – radikalen/ harten Bewegungssprache und ließ ihre sehr diversen Tänzer*innen konsequent Kreise, Quadrate, Dreiecke und harte Linien verkörpern.
Es war überwältigend, wie schon in den Anfangsszenen der "Kurzen Formen" der neue Geist Schlemmers sicht- und fühlbar wurde. Vollkommen nackt vollführte eine junge Tänzerin solche, an geometrischen Formen orientierte Bewegungen und zeigte damit umso deutlicher, was die andere Inszenierung "verhüllte". Ursprünglich war das kein anmutiger Tanz, kein klassisches Ballett mehr, sondern an Rationalität und Maschinen orientierte mechanische, gleichzeitig durch die ausladenden Kostüme eingeschränkte Bewegung.
Doch Rodrigues bleibt bei dieser damals sehr radikalen Ausgangsidee nicht stehen, will diese nicht konservieren, sondern verfolgt Kontinuitäten, die sich aus diesem Erbe ergeben und entwickelt diese weiter. So lässt sie immer wieder einzelne Tänzer*innen in kurzen Sequenzen auftreten, bis es zu House-Musik auch eine Massenszene gibt, in der alle, scheinbar individuell, die immer gleichen, extrem formalisierten Bewegungsabläufe vollziehen.
Wenig später werden nackte Frauenkörper zu eindrucksvollen Plastiken. Unter einem Spotlight verwandeln sie sich in Zeitlupe in (Kunst-)Objekte, die die geometrischen Formen wieder aufnehmen aber in ihrer Beseeltheit auch an andere Lebewesen – die auch der Fantasie eines Hieronymus Bosch entsprungen sein könnten – erinnern. Man hätte in der Potsdamer fabrik eine Stecknadel fallen hören können, so eindrucksvoll waren diese Körperbilder im Zwielicht.
Typisch für Lia Rodrigues‘ Arbeiten ist auch, dass sie sich im gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Raum/Diskurs verorten. Dafür stehen stellvertretend drei kurze Szenen. Ein nackter Mann vermisst sich selbst mit einem Metermaß – und übertreibt "natürlich" maßlos bei der Länge seines Geschlechtsteiles. Danach umwickelt sich eine junge, schöne, nackte Frau Arme, Beine und Rumpf fest mit breitem Tesa-Band – die Wülste, die dabei entstehen, erinnern ebenfalls entfernt an Schlemmer-Figurinen.
Doch als vier junge Männer die Enden des Klebebandes durch den ganzen Theaterraum hindurch straffziehen und die Frau daran wie eine Marionette hängt – ist das ein starkes Bild über die Rolle der Frau, des Frauenkörpers in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft, das einem kaum Luft zum Atmen lässt.
Und die wunderbar diverse junge Tänzer* innengruppe hält ganz am Schluss auch nicht mit ihrer eigenen Meinung zum gegenwärtigen rechtspopulistischen Regime von Jair Bolsonaro hinterm Berg. Auf Pappschildern erinnern sie an die Ermordung Marielle Francos und protestieren gegen die beabsichtigte 30%ige Kürzung der Universitäts-Etats in Brasilien.
Astrid Priebs-Tröger